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Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement
Psychosozial-Verlag Gießen 2020, 185 Seiten, 19,90 Euro.
Nach einer Pandemie ist man bekanntlich schlauer. Steven Taylor war es jedoch offenbar schon vorher. Als der kanadische Psychologe begann, über Pandemien zu forschen, ging er davon aus, dass die Menschheit schon bald eine Pandemie bewältigen müsse. Im Hinblick auf eine künftige schwere Influenza-Pandemie forschte Steven Taylor zu künftigen Pandemien und schilderte so – unbeabsichtigt – den Verlauf einer Corona-Krise, und zwar bevor sie ausbrach. Erschienen ist sein Buch auf Englisch im Herbst 2019, wenige Monate, bevor die ersten Covid-19-Fälle im chinesischen Wuhan bekannt wurden. Es nahm vieles vorweg, was seither geschah. „Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement“ wurde durch den Corona- Ausbruch unverhofft aktuell.
Der Professor für klinische Psychologie an der University of British Columbia forscht schon lange über Stress, Angst, Gesundheit und Gesellschaft. Weil keiner am Anfang einschätzen konnte, wie gefährlich die Krankheit Covid-19 wirklich sein würde, hat es nach dem Ausbruch einen Monat gedauert, bis es für Steven Taylor wie erwartet begann: Mit Panikkäufen, Verschwörungstheorien, Abwehrreaktionen, Rassismus und der Zunahme von Altruismus. All das war für den Autor erwartbar, und das ist auf den ersten Blick ziemlich erstaunlich. Offenbar ist seltsamerweise kaum erforscht, wie sich Gesellschaften und Individuen in einer solchen Situation verhalten.
Als Steven Taylor vor zwei Jahren anfing, dachte er nicht etwa an ein neues Coronavirus, vielmehr hielt er eine Form der Influenza, einen besonders gefährlichen Grippestamm, für wahrscheinlicher. Sein Fokus lag somit eigentlich auf der Spanischen Grippe. Zum hundertjährigen Bestehen waren verschiedene Interviews mit Virologen veröffentlicht worden, die alle eine weitere Pandemie vorhersagten. „Je mehr ich mich damit beschäftigte, umso mehr wurde mir klar, Pandemien sind grundsätzlich psychologische Phänomene, bei denen das Verhalten der Menschen die Ausbreitung beeinflusst oder Infektionen eindämmt“, so Steven Taylor im Magazin Spiegel.
Mit Pandemien gehen seiner Meinung nach viele Unsicherheiten einher, was Ursachen, Auswirkungen und Schutz betrifft. „Das sind wichtige Treiber für Angstzustände und Verhaltensweisen von Menschen, besonders von Menschen mit bestehenden psychischen Problemen“, so der Psychologe, der in seiner Praxis in Vancouver Angststörungen therapiert.
Es sollte nur ein Sachbuch werden, wurde aber eher ungeplant eine Prophezeiung. Und das wirkt beim Lesen beinah unheimlich. Renommierte Fachleute bescheinigten sofort: Steven Taylors Publikation füllt eine eklatante Forschungslücke, schreibt der Tagesspiegel und nennt die Pandemie „Infektion der Seele“. Auch der Autor selber ist verwundert, dass klinisch zwar viel geforscht wird zu Pandemien, doch deren sozialpsychologische Dynamik dabei enorm vernachlässigt werde. Hinzu kommen: Das Nebeneinander von Informationen, Desinformationen oder die Fehleinschätzung der eigenen Krankheitsanfälligkeit sowie die Gefahr sozialer Unruhen oder Ressentiments gegenüber Impfungen. Kaum zu glauben: All das spielt in dem Buch „Pandemie als psychologische Herausforderung“ eine Rolle.
Und wenn Steven Taylor jetzt von Virentypen und Infektionswellen, von social distancing, Isolation, Quarantäne und Jobverlust, von Existenzangst und „Superspreadern“ schreibt – dann ist man beim Lesen überrascht, dass viele dieser Begriffe gar nicht so neu sind. Auf wenigen Seiten beschreibt der Autor ein Szenario, das unserem heutigen Alltag nach dem Ausbruch von Covid-19 beinah gespenstisch gleicht. Wie ist das möglich? Der renommierte Psychologe hat einfach akribisch Beschreibungen bisheriger Pandemieverläufe in der Geschichte der Menschheit ausgewertet. Stichwort Hamsterkäufe: Auch als 1918 die Spanische Grippe grassierte, kauften die Menschen in Panik Geschäfte und Apotheken leer.
Ausgehend von der Geschichte der großen Pandemien entfaltet Steven Taylor das Panorama dieser kollektiven Herausforderungen vom Ursprung her. Es begann um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung. Aufgrund der Viehhaltung fing es vermutlich da an, dass Viren von Tieren auf Menschen übergingen – wie zuletzt auf dem Markt im chinesischen Wuhan. Nur waren damals schon menschliche Organismen gegen solche Viren nicht immun. Anfangs dienten Mythen oder Aberglaube als Erklärung für die unbekannten Erkrankungen: Götter oder Geister sind erzürnt, hieß es früher. Sündenböcke wurden gesucht und Gerüchte, wie sie jetzt im Netz verbreitet werden, gab es schon zu analogen Zeiten. Bis der wissenschaftliche Fortschritt begann.
Bekannte Pandemien wie Pocken, Cholera, Pest oder Lepra – alle diese tödlich verlaufenden Krankheiten wurden schon sehr früh penibel dokumentiert. Der Spezialist für Angststörungen schildert die Verläufe von Pandemien – und siehe da: Vieles von dem, was seit dem Ausbruch von Covid-19 geschehen ist, wurde bereits in früheren Pandemien beobachtet: temporär überlastete Krankenhäuser, hohe Erkrankungsraten beim medizinischen Personal, kollabierende Beerdigungsinstitute. Oder Panikkäufe von Lebens- und Desinfektionsmitteln sowie symptomlose Superspreader. Und so beschreibt Steven Taylor anhand historischer Quellen einen der bekannten Superspreader der Geschichte: „Typhoid Mary“, eine mit Typhus infizierte Köchin in New York, die von 1902 bis 1909 etwa fünfzig Menschen ansteckte, ohne je selber zu erkranken, bis sie in polizeilich angeordnete Zwangsquarantäne geschickt wurde.
Der Psychologe nimmt auch die Krisenkommunikation der Behörden in den Blick sowie die Rolle der Medien und die Verschwörungstheorien. Fast alles, wovor Steven Taylor aufgrund seiner Auswertung früherer Pandemien warnt, geht auch bei Corona schief. „Die Gefahr muss als glaubwürdig wahrgenommen werden", schreibt der Autor, „und die vorbeugenden oder schützenden Maßnahmen müssen einen derartigen Anspruch ebenfalls erfüllen." Das klingt bekannt, wenn man sich an die unerquicklichen Diskussionen erinnert, ob Masken schützen oder nicht. Nicht neu ist zudem, dass Medien wohl zu allen Zeiten dazu neigten, Risiken zu übertreiben.
Neu ist für Steven Taylor: Corona ist die erste Pandemie im Zeitalter der weltweiten Vernetzung durch soziale Medien, bei der Falschinformationen ungefiltert verbreitet werden, amtierende Staatschefs von einem „kleinen Grippchen“ sprechen oder empfehlen, Desinfektionsmittel zu trinken. Überraschend ist: „Die weltweit vernetzte Menschheit hat die Pandemie in einer Atmosphäre der Gleichzeitigkeit erlebt“, sagt der Psychologe in der Welt. „Ohne sie gäbe es keine TikTok-Videos, in denen Menschen die Angst vor Corona wegtanzen, keine Virologen-Podcasts, keine permanent aktualisierten Statistiken oder Kurven, die den Fortlauf der Pandemie beschreiben.“ Andererseits führt die Überdosis an Informationen auch wieder zu Angst – und zeigt: „Wir müssen alle lernen, Informationen über die Pandemie richtig zu verarbeiten.“
Was der Autor aus Studien zu Ebola und Sars folgert, könnte auch für Corona gelten: Die psychologischen Auswirkungen der Pandemie, Ängste und Unsicherheit, sind in der Regel weiter verbreitet als die medizinischen. Sie werden uns wohl auch in dieser Krise länger begleiten. Sozialpsychologische Kenntnisse sind für Steven Taylor deswegen unerlässlich, um künftig pandemische Krisen zu managen. Das erläutert er in seinem Buch mehr als deutlich. So gut Virologen und Spezialisten medizinisch Bescheid wissen, das Wissen muss für den Autor in die Bevölkerung gelangen, sollen Pandemien dauerhaft eingedämmt und besiegt werden. Ratschläge, Handlungsanweisungen und Präventionsideen: Vieles liegt in Steven Taylors Buch fundiert vor. Es könnte durchaus als Leitfaden gelten, nicht nur für den Umgang mit Angst, Isolation und Quarantäne, sondern auch für den Umgang mit Stress in Großgruppen.
Steven Taylor schreibt leider in einer eher spröden, stark zu Abstraktionen neigenden Sprache des Wissenschaftlers. Das hochaktuelle Buch wäre sicher leichter zu lesen, wenn es populärwissenschaftlich aufbereitet worden wäre. Allein auf 30 Seiten listet der Autor Studien auf, die er für seine Arbeit ausgewertet hat und die ihm als Fundgrube für viele Fallbeispiele dienten. Eine der schmerzhaften Lehren: Wir haben offenbar bereits vor Corona über umfangreiches Wissen verfügt, um auf Pandemien vorbereitet zu sein – gesellschaftlich, politisch und persönlich. Nun werden die Vorbereitungen in der Corona-Krise mühsam und für viele existenzbedrohend nachgeholt.
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