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Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen
Penguin Verlag, München 2021, 400 Seiten, 22,00 Euro.
Mächtige Akademiker, geringgeschätzte Handwerks- und Sozialberufe: Der Brite David Goodhart geht diesem schwierigen Verhältnis zwischen Kopfarbeit und Handwerk und sozialen Berufen in wohlhabenden Nationen auf den Grund. Menschen mit kognitiven Berufen haben mehr Status, sind sozial privilegiert und verfügen häufig über viel zu viel Macht und Einfluss in modernen Gesellschaften. Darüber ist der frühere „Financial Times“-Korrespondent zutiefst besorgt und plädiert nun in „Herz, Kopf Hand“ dafür, die Kluft zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern zu schließen.
Alle Macht den renditegierigen Wertpapierjongleuren – und den akademisch Gebildeten: So in etwa beschreibt David Goodhart die real existierenden Machtverhältnisse im Finanzkapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts – und findet: Das kann so nicht weitergehen. Der gelernte Politikwissenschaftler fordert eine neue Wertschätzung für soziale Berufe und das gute alte Handwerk. Denn für ihn sind die Menschen in den traditionellen, den nichtakademischen Berufen die Verlierer. Sie alle fühlen sich zunehmend unverstanden und alleingelassen. Während der Pandemie bekamen sie zwar viel Applaus, aber das hat an ihrem Status wenig verändert.
„Wir haben erst in der Corona-Krise erkannt, von wem wir abhängig sind, und zwar nicht nur von Krankenschwestern, Pflegekräften und medizinischen Experten, die natürlich die Helden der Pandemie sind“, sagt David Goodhart im Skype-Interview mit unserer Autorin. „Wir haben auch entdeckt, wie abhängig wir von ganz normalen Menschen sind, die im Supermarkt, als Busfahrer oder als Pflegerin im Altenheim arbeiten. Normalerweise sind diese Menschen für uns unsichtbar. Wir kennen sie nicht.“ Erst während der Pandemie beobachtete der Journalist „dass die Unsichtbaren sichtbarer geworden sind und Anerkennung bekamen. Ein bisschen mindestens“.
„Wir brauchen eine andere Verteilung von Wertschätzung und auch von Lohn“, fordert David Goodhart. Aufgrund ihrer „Kopf-Kompetenzen“, wie der Journalist es nennt, erhalten Akademiker viel zu viel Status und Einkommen. Für den Publizisten sitzt diese „kognitive Klasse“ der akademisch Gebildeten an den Schalthebeln der Macht, die Gebildeten sind quasi die Gewinner. Genau das ist gesellschaftlicher Sprengstoff. David Goodhart, der in Nord-London, sich selbst als Sozialdemokrat bezeichnet und aktuell in einem britischen Thinktank, einer Denkfabrik, arbeitet, ist kein Gegner von Hochintelligenz. Ganz im Gegenteil, die werde seiner Meinung nach gebraucht, um beispielsweise Impfstoffe gegen den Corona-Virus zu entwickeln.
„Im Namen von Effizienz, Gerechtigkeit und Fortschritt wurden Formen des Wettbewerbs eingeführt, in denen die Besten erfolgreich sind, während sich der große Rest als Versager fühlen darf“, schreibt der Sohn eines konservativen Unterhausabgeordneten.
Keine Frage: Für David Goodhart braucht es kluge Menschen, mit akademischer, analytische Intelligenz: „Aber wir müssen nicht 50 Prozent unserer jungen Menschen in Universitätskurse schicken.Wir haben einen Peak Height erreicht, es sind genug junge Menschen in Universität, vielleicht zu viel.“ Der Autor beobachtet, dass allein in Großbritannien 35 Prozent aller jungen Menschen hinterher „keine adäquate oder nur eine schlecht bezahlte Arbeit finden und das schafft eine große Enttäuschung“. Für den Briten ist das „ganz gefährlich, politisch gesehen“. Nicht nur in Großbritannien, auch in Deutschland „werden junge Menschen mit Studium überproduziert und gleichzeitig herrscht Fachkräftemangel, Pflegekräftemangel“. Daraus folgt, „ein großes Statusungleichgewicht und das schadet unserer Gesellschaft“.
David Goodhart begann seine journalistische Karriere bei der Yorkshire Evening Post, bevor er zur Financial Times wechselte, für die er zwölf Jahre in den Ressorts Wirtschaft und Politik arbeitete. Von Ende der 80er Jahre arbeitete er für die Financial Times in Bonn, erlebte den Fall der Mauer in Berlin mit und gründete nach seiner Rückkehr 1995 in London das politische Magazin Prospect. Mittlerweile hat sich der Journalist schon in mehreren Büchern mit dem politischen Epochenbruch beschäftigt.
Noch vor der Brexit-Abstimmung im Sommer 2016 schrieb der Publizist den Bestseller The Road to Somewhere, in dem er sich mit der Kluft zwischen urbanen Eliten und der traditionellen Mittelklasse und mit den Gründen für die populistische Revolte in westlichen Ländern beschäftigte. Auf der einen Seite entstanden meist gut ausgebildete, kosmopolitische, global und mobil denkende Eliten der Wissensgesellschaft. Der Politikwissenschaftler nennt sie Anywheres, weil sie im Grunde überall leben könnten. Auf der anderen Seite die weniger gebildeten, eher lokal verwurzelten Somewheres, diedas Vertraute und Sicherheit schätzen, in Begriffen wie Familie, Heimat, Nation denken. Beide Gegensätze bestimmten über vier Jahrzehnte die politische Agenda.
Kopf, Hand, Herz bezeichnet der Journalist als zweiten Teil, diesmal geht der Publizist mit seiner Gesellschaftsanalyse in die Tiefe. David Goodhart hat das neue Buch zwar weitgehend vor der Coronakrise geschrieben. Im Mittelpunkt stehen trotzdem Menschen, die in Lieferdiensten, Supermärkten, in Pflege und Erziehung arbeiten. Eine Gesellschaft, die die Berufe der Hand und des Herzens, also Handwerk und soziale Berufe, geringschätzt und schlecht bezahlt, droht seiner Meinung nach aus der Balance zu geraten.
„Es geht natürlich um Status und um Geld, beides ist ganz eng verknüpft“, analysiert David Goodhart im Gespräch. „Aber manchmal ist es einfacher, mit höheren Mindestlöhnen das Geldproblem zu lösen.“ Status und Anerkennung müssen dagegen für den Autor „mehr subtil gefördert werden“: „Es ist ganz schwer für Politik, denn im Grunde geht es als Gesellschaft alle an.“ Dahinter steckt für den Briten: „Wir müssen mehr bezahlen, denn unsere Alten- und Pflegeheime können ohne Pflegekräfte nicht funktionieren. Die Menschen müssen hier nicht nur besser Geld verdienen, sie müssen auch eine neue Art von Anerkennung bekommen. Beides ist ganz eng verknüpft.“
David Goodhart, dessen Ururgroßvater Mitbegründer der späteren Großbank Lehmann Brothers war, plädiert in „Herz, Kopf Hand“ nicht nur äußerst lesenswert dafür, die Kluft zwischen den Somewheres und den Anywheres zu schließen. Die Pandemie hat für den früheren „Financial Times“ -Korrespondenten auch massiv gezeigt, dass sich Kopfarbeit problemlos an den Computer auslagern oder durch künstliche Intelligenz ersetzen lässt. Der Autor bezweifelt, dass das gebildete Anywhere-Städter und Wissensarbeiter auf Dauer „cool lässt“. Sie haben zwar „gegen den Populismus gestimmt, werden die Dinge aber ganz anders sehen, wenn sie selbst von Globalisierung und Rationalisierung betroffen sind“, schreibt David Goodhart.
Es braucht Menschen, die soziale Berufe ergreifen, und das gelingt nur, wenn sich Arbeitsbedingungen, Einkommen und Status verbessern. Der Autor ist relativ optimistisch, dass die Pandemie uns die Augen geöffnet hat: „Wir leben unaufhörlich in einer Kette von Abhängigkeiten, dazu gehörenauch die Menschen, die nicht so anerkannte Arbeit machen, wie in unseren Supermärkten. Die meisten systemrelevant arbeitenden Menschen haben kein Studium und es gibt einen neuen Druck, eine Art Push in diese Richtung, das starke Ungleichgewichtumzudenken, umzuarbeiten und mindestens darüber zu reden.“
Das Ungleichgewicht, die gegenwärtige Unzufriedenheit und der Bildungsgraben sind für David Goodhart ein idealer Nährboden für Populisten, die sich die Frustration der weniger Gebildeten zunutze machen. Für den Autor eine der Hauptursachen für politische Konflikte. Zu den Lösungsmöglichkeiten, die der Autor vorschlägt, gehören höhere Mindestlöhne, bessere Chancen für leistungswillige Nicht-Akademiker, in Führungspositionen aufzusteigen und neue Arbeitsplätze, die eine interessante Kombination von Kopf und Herz ermöglichen könnten. Letztendlich geht für ihn um die Frage: Was ist ein erfolgreiches Leben und das sei viel zu eng geworden. „Ich glaube vor 30, 40, 50 Jahren gab es für unsere Eltern oder Großeltern ein viel breiteres Konzept, um ein erfolgreiche Frau oder Mann zu sein.“
Jetzt dreht sich alles nur noch darum, man muss klug sein, erfolgreich in der Schule und auf eine gute Universität gehen, dann bekommt man einen gut entlohnten, professionellen Arbeitsplatz.“ Dieser Weg zum Erfolg, hat viel Enttäuschung ausgelöst. Emotionale Intelligenz, also Mitgefühl, Beziehungsfähigkeit oder Verhandlungsgeschick, werde in Zukunft wichtiger werden, zitiert David Goodhart mehrere Experten. „Wir brauchen ein breiteres Konzept von Fähigkeit und Intelligenz.“
Kopf, Hand, Herz ist eine provozierende und unbequeme Gesellschaftsanalyse, die u.a. einen guten Überblick liefert über die Bildungseliten in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und den USA. Deutschland mit seinem weitgehend einzigartigen Modell der dualen Berufsausbildung ist ein Sonderfall. Für David Goodhart haben die Hand- und Herzarbeiter hierzulande schon einen höheren Stellenwert als anderswo. Doch der langjährige Akademisierungstrend lasse sich auch hier beobachten. Der Autor hat erneut bewiesen, dass er zum einen die Forschung präzise kennt, wenn h sich das Buch mitunter wegen seiner Fülle an Statistiken und Zahlen manchmal etwas mühsam liest. Zugleich erzählt der Journalist über Menschen aus seinem Umfeld, deren Berufsbiografien ihn zum Nachdenken gebracht haben. So macht er die Schicksale hinter den Fakten sichtbar. „Seine Analyse hat eine Substanz an Detailkenntnissen, die im üblichen medialen Wortüberfluss rar sind“, heißt es der ZEIT.
Weiterführende Links:
The Road to Somewhere. Wie wir Arbeit, Familie und Gesellschaft neu denken müssen kann man endlich auf Deutsch lesen (millemari 2020, übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz u. a., 348 S., 39,95 €
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-berufe-gerechtigkeit-goodhart-100.html
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