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Jens führte einmal ein ganz normales Leben und träumte von einer Familie. Doch der Krebstod seiner Mutter und die Trennung von seiner Freundin schleuderten ihn aus der Bahn – mit Mitte zwanzig verlor er seinen Handwerkerjob und seine Wohnung. Seit nunmehr drei Jahren lebt Jens im Zelt in einem Waldstück im Dortmunder Norden. Schon dreimal wurde er ausgeraubt, doch wer einmal ohne feste Wohnung ist, findet kaum noch zurück in eine geregelte Bleibe. Jens, der nicht weiter namentlich genannt werden möchte, ist einer der Interviewpartner*innen aus einer empirischen Studie der Fachhochschule Dortmund über Menschen ohne Zuhause.
„Niemand muss in Deutschland auf der Straße leben. Wer obdachlos ist, ist selber schuld“, so heißt es oft. Ein rasch gefälltes Urteil, das die Betroffenen an den unteren sozialen Rand abdrängt und sie zu „Unsichtbaren im Schatten der Gesellschaft“ macht, so der Titel der Studie. Sie alle tragen frühe Brüche oder zugespitzte biografische Krisen in ihrem Lebensgepäck. Arbeitslosigkeit, Trennung, Überschuldung oder Sucht können zu Auslösern persönlichen Strauchelns werden. „Du glaubst nicht, wie schnell das geht, guck mich an: Ich bin ein ganz normaler Typ. Das geht so fix und dann sitzt du da“, bringt es Jens aus Dortmund auf den Punkt.
2018 waren laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) rund 678.000 Menschen ohne eigene Wohnung, 4,2 Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten von ihnen lebten in Notquartieren. Davon waren 41.000 Personen obdachlos, also ohne ein Dach über dem Kopf. Eine präzise bundesweite Zählung gibt es bislang nicht, die BAGW-Daten beruhen auf einer Hochrechnung. Obwohl wohnungs- und obdachlose Menschen landauf, landab vermehrt im Straßenbild auftauchen, herrscht große Unkenntnis über ihren persönlichen Werdegang und ihre Lebensbedingungen. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an.
Personen in schwierigen Lebenslagen, die arbeitslos geworden sind oder ihre Miete nicht mehr bezahlen können, steht zwar staatliche Unterstützung nach dem Sozialgesetzbuch zu. Wer sich aber erst einmal in einer persönlichen Abwärtsspirale bewegt, ist oft nicht mehr in der Lage, sich um Hilfe zu bemühen, arbeitet die Studie heraus. „Niemand tut sich das freiwillig an“, sagt Tim Sonnenberg, Mitherausgeber der Studie. Die Betroffenen schämen sich, Hilfe anzunehmen, ziehen sich zurück oder scheitern am komplizierten Regelwerk der Sozialbürokratie. Bei ihnen greifen die offiziellen Hilfsstrukturen nicht mehr, sie tauchen in keiner offiziellen Statistik mehr auf.
Die Daten vorliegender Studie wurden an einem sog. „Aktionsforschungstag“ (20. Mai 2019) in Dortmund erhoben. Rund 20 Teams mit Wissenschaftler*innen und Studierenden der Fachhochschule interviewten dabei wohnungs- und obdachlose Menschen im Stadtgebiet anhand eines vorher zusammen mit Betroffenen entworfenen Fragebogens. Auf diese Weise entstand eine schonungslose Recherche zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit in der Ruhrmetropole. Ziel ist, die Lebenslagen dieser Menschen in das Licht gesellschaftlicher Wahrnehmung zu rücken und Ansätze für eine erfolgreiche Präventionsarbeit aufzuzeigen.
Die „Schattenwelt“ der Wohnungs- und Obdachlosen erweist sich bei näherem Hinsehen als schwierig zu identifizieren. Das beginnt schon mit der Dunkelziffer jener Menschen, die außerhalb der Regelstrukturen kommunaler und ehrenamtlicher Hilfsangebote leben, erörtert die Studie. Das FH-Projekt beschränkte sich daher bewusst nicht nur auf offizielle Anlaufpunkte wie Notunterkünfte, Essens- und Kleiderausgaben. Vielmehr trieb es die Wissenschaftler*innen und Studierenden mittels aufsuchender Feldforschung zu den selbstgewählten Aufenthaltsplätzen der Betroffenen „auf der Platte“, in Parks und Unterführungen.
Sie kontaktierten 609 Personen, die nicht in städtischen Wohnunterkünften untergebracht waren – 396 Obdachlose und 213 Wohnungslose, die in unsicheren Verhältnissen bei (Zufalls-) Bekannten Unterschlupf gefunden hatten, weiterhin rund 200 Menschen, die etwa leerstehende Wohnungen nutzten und auch diese zu verlieren drohten. Hinzu kamen 1.103 Postfächer, die Obdachlosen von Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege wie der Diakonie zur Verfügung gestellt werden, damit sie postalisch erreichbar sind.
Die Frage, warum Menschen ihre Wohnung verloren haben, fördert stets sehr persönliche Schicksale vor dem Hintergrund struktureller Ursachen zutage. Da sind arbeitslose Personen, die keinen Neuanfang in der Arbeitswelt schafften, psychisch Kranke, ehemals Straffällige und junge Ausreißer aus zerrütteten Familienverhältnissen. Hinzu kommt eine beträchtliche Zahl osteuropäischer Migranten. Hinter diesen Schicksalen stehen Wohnraummangel, Armut, soziale Ausgrenzung und eine oftmals nur verwaltend-verwahrende sozialstaatliche Fürsorge. Einmal auf der Straße, kommen Überlebensstrategien wie Alkohol- und Drogensucht, Gelegenheitsprostitution und Beschaffungskriminalität dazu. Das alles macht eine Rückkehr in die bürgerliche Normalität fast unmöglich.
Ihre Fallstudie verbinden die Autor*innen mit konkreten Empfehlungen zur Lageverbesserung für die Betroffenen, die nicht nur in Dortmund gültig sind. Zuerst einmal: „Die Stimmen der Betroffenen müssen mehr Gewicht erhalten.“ Das kommunale Hilfesystem solle endlich die tatsächliche Dimension der Wohnungslosigkeit vor Ort in den Blick nehmen und es aus dem Dunkelfeld der Stigmatisierung und Ausgrenzung herausführen, um effektiv handeln zu können. Und: Obdach- und Wohnungslosigkeit müsse in der Sozialen Arbeit stärker in den Fokus rücken – von der Jugendhilfe bis zur Justizsozialarbeit.
Die Unterstützung der Wohnungslosen sollte vom pauschal verwaltenden Ansatz zur individuellen Fallanalyse mit sozialpsychologischer Betreuung wechseln, fordern die Wissenschaftler. Das städtische Wohnraumvorhalteprogramm in Dortmund könne nur als Übergangslösung funktionieren. Gefragt sei ein bedarfsgerechtes Angebot bezahlbarer Sozialwohnungen, etwa auch durch die Bereitstellung von Tiny Houses als einem Schutzraum mit Privatsphäre.
Dierk Borstel / Tim Sonnenberg / Stephanie Szczepanek (Hrsg.),
Die „Unsichtbaren“ im Schatten der Gesellschaft - Forschungen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit am Beispiel Dortmund, Studie der Fachhochschule Dortmund, 223 Seiten
Erschienen bei Springer Fachmedien, Wiesbaden:
www.springer.com/de/book/9783658312619
Siehe zum erfolgreichen Ansatz des „Housing First“ in Finnland:
Dieser Mann schafft die Obdachlosigkeit ab (23.4.2021), in: spiegel.de vom 23.04.2021 (abgerufen am 06.05.2021)
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