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Droemer Verlag, München 2019, 200 Seiten, 16,99 Euro
Nicht nur über Probleme berichten, sondern auch über mögliche Lösungen: Das will der konstruktive Journalismus. In Großbritannien heißt die Onlineplattform "Positive News", in der New York Times ist es die Kolumne „The Fixes“(die Lösungen). „De Correspondent“in den Niederlanden gibt es seit 2013, jetzt startet er ein englischsprachiges Angebot in den USA. Die ARD-Tagesthemen nennen ihre monatliche Serie schlicht #lösungsfinder. In Deutschland gibt es seit 2016 das Onlineportal „Perspective Daily“. Mit Hilfe von Crowdfunding gründete die Neurowissenschaftlerin Maren Urner gemeinsam mit ihrem Kollegen Han Langeslag im beschaulichen Münster in Westfalen dieses erste werbefreie Online-Magazin für konstruktiven Journalismus. Jetzt hat Maren Urner das Buch. Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ veröffentlicht und verrät, „wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren können“.
Kriegsdrohungen, Terroranschläge, Klimakatastrophen: Der Welt scheint es so schlecht zu gehen, wie noch nie. Und wer ständig schlechte Nachrichten aufnimmt, geht automatisch davon aus, dass demnächst alles noch viel schlimmer wird, behauptet Maren Urner.Pausenlose Berichte über Skandale, Kriege und Krisen produzieren letztendlich eine Art Weltuntergangsstimmung. Und die wird noch verstärkt, wenn keine Perspektiven aufgezeigt werden. Die promovierte Neurowissenschaftlerin ist eine große Verfechterin des lösungsorientierten Journalismus, obwohl sie weiß: „Die Vorliebe der Menschen für negative Nachrichten ist evolutionär bedingt.“
„Das war früher, in Zeiten von Säbelzahntiger und Mammut, eine wichtige Reaktion, wenn die schlechte Nachricht vor der Tür stand, um entsprechend reagieren zu können“, sagt Maren Urner im Gespräch mit unserer Autorin. „Was jetzt passiert mit der Berichterstattung ist, dass das digitale Mammut durch negative Nachrichten im Sekunden- oder Minutentakt vor der Höhle steht, also im Smartphone auf uns einprasselt. Das sorgt für einen chronischen Stresszustand, wo unser Körper keine Zeit mehr hat, sich zwischendurch zu erholen.“
Das Lösen von Missständen ist zu Recht gar nicht die Aufgabe von Medien. Der konstruktive Journalismus geht vielmehr davon aus, dass es Sinn macht, die Aufmerksamkeit auf ermutigendeProjekte zu lenken. Zum Beispiel, wie Meere und Flüsse vom Plastikmüll gesäubert werden. Ständige Negativ-Berichterstattung geht an der Wirklichkeit und an den Interessen des Publikums vorbei, schreibt Maren Urner. „Es gab aber schon immer den Hang zum Negativen. Was es jetzt ins Perverse treibt, ist diese digitale – ich will es nicht Bombardierung nennen, denn es sind keine Bomben –, aber diese digitale Vermüllung. Die passiert, weil wir rund um die Uhr erreichbar sind.“
Rund um die Uhr Hiobsbotschaften, schlechte Nachrichten, Katastrophenberichte. Mehrere Studien belegen mittlerweile: Negative Geschichten machen das Publikum apathisch, ängstlich und schlechter gelaunt. Nach der Lektüre von lösungsorientierten Texten gaben die Teilnehmer einer Studie dagegen an, motivierter zu sein und umweltfreundlicher zu handeln.
Maren Urner geht es darum, ein realistischeres Weltbild zu vermitteln: Weg vom Schwarz-Weiß-Denken hin zum lösungsorientierten Ansatz, schreibt die Mitgründerin von „Perspective Daily“. Denn wer wegen Endzeitszenarien das Interesse an den Nachrichten verliert, wendet sich dem Privaten zu: Liest Magazine wie Landlust oder Happinez, kocht Marmelade ein und pflegt den eigenen Garten. „Das neue Biedermeier“ nennt Maren Urner spöttisch diesen Rückzug ins Private.
Es gibt aber einen Mittelweg, schreibt die Neurowissenschaftlerin. Als ersten Schritt empfiehlt Maren Urner herauszufinden, welche Informationen, Portale und Medien gut tun und vollständiger informieren. Die Dozentin an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln nennt es interessanterweise Medienhygiene. „Wir denken unheimlich viel darüber nach, was wir essen, was wir trinken, aber bei Informationen erstaunlich wenig. Obwohl das Gehirn, das sensibelste und empfindlichste Organ ist, was wir haben, lassen wir alles ran, ohne darüber nachzudenken. Das Gehirn wird zugemüllt.“
Eine Studie über die psychischen Auswirkungen des Anschlags auf den Boston Marathon 2013 war für Maren Urner der Auslöser, drei Jahre später das Web-Magazin „Perspective Daily“mit zu gründen. Das Studienergebnis hatte die Neurowissenschaftlerin damals überrascht: Menschen, die den Anschlag nur über die Medien vermittelt erlebt haben, waren gestresster und negativer beeinflusst als diejenigen, die ihn unmittelbar erlebt hatten.Für die Autorin der Beleg: Ereignisse aus den Medien werden oft viel dramatischer und heftiger wahrgenommen, als direkt vor Ort. Maren Urner möchte keineswegs negative Nachrichten ausblenden. Was sie ärgert, ist das verzerrte Weltbild. Viele Menschen interessieren sich durchaus für politische Zusammenhänge und wollen wissen, welche Möglichkeiten es gibt, etwas besser zu machen. Zwei Jahre nach der Gründung hat „Perspective Daily“prominente Fans wie Ernst Ulrich von Weizsäcker vom Club of Rome, Ex-Fußballer Mehmet Scholl oder die Schauspielerin Nora Tschirner und wurde bereits für den Grimme-Preis nominiert.
Kritiker sprechen gerne verächtlich von Zuckerwatte-Journalismus, von Kuschel- und Wohlfühl-Texten oder von Honiglecken-Journalismus. Anfangs war die Pionierin Urner zunächst wütend, dann traurig, erinnert sich die Journalistin. „Mittlerweile versuche ich es konstruktiv zu sehen, weil es offensichtlich einen Nerv trifft.“ Das häufigste Missverständnis: Es wird angenommen, konstruktiver Journalismus packe das Positive oben drauf. Dabei wird meist eine zukunftsorientierte Lösung präsentiert. Die soll bestenfalls Lust machen, Probleme anzupacken.
Schon beim Schreiben ihrer eigenen Artikel überprüft Maren Urner, welcher Satz welchen Effekt auf das Gehirn der Leserinnen und Leser oder auf sie selbst hat. „Als Neurowissenschaftlerin bin ich immer auch auf der Meta-Ebene unterwegs." Das sei mitunter anstrengend, da ständiges Hinterfragen auch offenlege, wo sie sich getäuscht habe. Generell plädiert Maren Urner für mehr Journalisten mit wissenschaftlichem Hintergrund. Daraus entsteht ihrer Meinung nach eine andere Tiefe. Und das erfordert in jedem Fall kritisches Denken, Neugier und die Offenheit, sich selber zu hinterfragen.
Für Maren Urner ist die einzige Chance, die wir als Menschen haben, Kommunikation zu üben und nach der Überlappung zu schauen. Möglicherweise nimmt das Gegenüber in einem anderen Land eine bestimmte Situation ganz anders wahr. „Das mag jetzt sehr groß klingen, aber das erzähle ich auch meinen Studenten.“ Die zweite wichtige Sache, die für die Neurowissenschaftlerin dazu gehört: Eine Diskussions- und Debattenkultur entwickeln, in der derjenige mal Anerkennung oder Applaus bekommt, wenn er sagt: „Okay, das war interessant. Ich habe tatsächlich etwas dazu gelernt, und vorher habe ich mich geirrt.“
„Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ ist – nicht nur für Medienschaffende – ein inspirierendes Buch mit vielen Studien, Fakten und Fragen. Man ertappt sich bereits beim Lesen dabei, den eigenen Medienkonsum, die „digitale Vermüllung“, wie die Autorin es nennt, neugierig zu hinterfragen. Um die Auswahl an Informationen und den reflektierten Umgang mit dem eigenen Informationskonsum zu fördern, gibt es am Ende des Buches sieben Lektionen: Als Rüstzeug gegen die tägliche Informationsflutund für hoffnungsvolles, zukunftsorientiertes Denken. Diewichtigste Fähigkeit dabei ist und bleibt für Maren Urner: Kritisches Denken.
Weitere Informationen
Online-Magazin Perspective Daily:
https://perspective-daily.de
Die Autorin ist am 6. August 2019 zu Gast in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“.
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