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Ghettos wie in den amerikanischen Metropolen oder französischen Banlieues? Schlimm, doch weit weg von uns. Schlagzeilenträchtige Problembezirke wie Bremerhaven-Lehe, Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh rücken uns da schon näher, auch wenn sie bislang Ausnahmen sind. Und doch darf die Politik nicht länger wegschauen. Die soziale Spaltung in vielen Städten hierzulande schreitet bedenklich voran, führt eine Studie des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB) aus: Arm und Reich, Jung und Alt leben immer seltener Tür an Tür.
Die Studie analysiert die soziale Durchmischung in 74 deutschen Städten zwischen 2005 und 2014. Fast alle sind Großstädte mit mindestens 100.000 Einwohnern. In rund 80 Prozent dieser Kommunen hat demnach die räumliche Ballung von Menschen zugenommen, die von Sozialleistungen wie Hartz IV leben. Die Studie versteht Segregation als „ungleiche Verteilung von Bevölkerungsgruppen über städtische Teilgebiete“. Sie ist nach eigenem Bekunden die umfangreichste Analyse wohnräumlicher Segregation auf der Basis amtlicher Daten.
Soziale Segregation: Zwischen 2005 und 2014 nahm die ungleiche Wohnverteilung in deutschen Städten um rund elf Prozent zu – in Ostdeutschland um 23 Prozent und im Westen um acht Prozent. Im Osten trifft es besonders Rostock, Schwerin, Potsdam, Erfurt, Halle und Weimar, in Westdeutschland Städte wie Kiel, Saarbrücken und Köln. Die Hartz-IV-Reform sei nicht Auslöser, sondern höchstens Katalysator der Entwicklung gewesen, korrigiert die Studie eine gängige Annahme. Der Trend von Verarmung und sozialräumlicher Ungleichverteilung reiche bis in die 1990er-Jahre zurück. „Mittlerweile lassen sich in einigen ostdeutschen Städten Werte der sozialen Segregation von 35 bis 40 Prozent beobachten – ein ähnliches Niveau wie für die Segregation von Armen in US-amerikanischen Metropolregionen.“
Soziale Segregation von Kindern: Ähnlich wie in den USA ist hierzulande auch eine soziale Spaltung der Städte bei Familien mit Kindern stärker ausgeprägt als bei der Gesamtbevölkerung, konstatiert die Studie. 36 der 74 untersuchten Städte haben Quartiere, in denen mehr als 50 Prozent aller Kinder von Hartz IV leben. Die höchsten Werte errechneten die Wissenschaftler für Rostock, Berlin, Halle und Schwerin.
Ethnische Segregation: Lange Zeit hinweg war die räumlich ungleiche Verteilung von Bürgern ausländischer Herkunft in deutschen Städten höher als die von Deutschen. Diese Entwicklung ist den Forschern zufolge zwischen 2002 und 2014 um sieben Prozent zurückgegangen. Offen bleibt indes der Einfluss der Flüchtlingskrise seit 2015 auf die ethnische Verteilung – immerhin bilden mittlerweile in etwa der Hälfte aller ostdeutschen Kreise Syrer die größte Ausländergruppe.
Demografische Segregation: Das Alter der Stadtbewohner spielt eine bislang vernachlässigte, tatsächlich aber wachsende Rolle für die wohnräumlichen Verteilung. „Genauer gesagt ballen sich sowohl die 15- bis 29-Jährigen als auch die 65-Jährigen immer stärker in bestimmten Stadtteilen.“
Nicht steigende Mieten hätten entgegen vorherrschender Meinung einen verstärkenden Einfluss auf die soziale Spaltung von Städten, sondern der Mix aus sozialen und mobilen Gruppen. „Besonders segregiert sind Städte, in denen die soziale Ungleichheit größer ist und wo zugleich viele Menschen dazu gezwungen sind, sich eine neue Wohnung zu suchen und sich damit dem Marktgeschehen auszusetzen“, ergab die Analyse. Betroffen sind vor allem Familien mit kleinen Kindern.
Die Verfügbarkeit von Sozialwohnungen verringert nicht notwendig spaltende Tendenzen. Das Problem ist die sozialräumliche Verteilung: „Wir beobachten im Gegenteil, dass die soziale Segregation in jenen Städten höher ausfällt, wo verhältnismäßig viele Sozialwohnungen vorhanden sind.“ Der Grund liegt im Rückzug von Staat und Kommunen aus dem sozialen Wohnungsbau in den 1980er-Jahren, vor allem in den begehrten Citylagen. Die verbliebenen Sozialwohnsiedlungen ballen sich häufig in den unattraktiven Randlagen mit einer hohen Konzentration sozialen Konfliktpotenzials.
Private Grundschulen dämpfen die soziale Trennung merklich ab, klärt die Studie auf. Das gelte vor allem in Städten mit vielen kleinen Kindern (unter 6 Jahre) und einer hohen Zahl armer Bewohner (SGB-II-Bezieher). Der Grund: Im Streben nach sozialer Abgrenzung ziehen bessergestellte Eltern die Wahl einer privaten Schule für ihre Kinder dem Wegzug aus der armen Nachbarschaft vor.
Die Autoren halten es für „das brisanteste Ergebnis“ ihrer Analysen, dass die soziale Segregation merklich zunimmt, wenn bereits ein gewisser Schwellenwert erreicht ist. Dann setzen eine Ballung sozial schwacher Bewohner, niedriges Mietniveau gegenüber Quartieren der Mittelschicht und schlechter Ruf dieser Viertel eine verhängnisvolle Spirale sozialräumlicher Abgrenzung in Gang, die nur noch durch massive Eingriffe durch die Städtebaupolitik zu stoppen ist, hält die Studie fest.
Vor diesem Hintergrund sollte der Bau zusätzlicher Sozialwohnungen vorangetrieben werden – per kommunaler Auflage gezielt auch in besseren Wohngebieten. Hinweise auf denkbaren Widerstand seitens der Bewohner dieser Viertel und der Immobilienwirtschaft kontern die Autoren mit dem Verweis auf das erfolgreiche Vorgehen der Stadt München in den vergangenen Jahren. Weiterhin könnten unerwünschte Konsequenzen sozialer Segregation durch aktives Quartiersmanagement zumindest abgemildert werden. Brennpunktschulen müssten mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet werden, Angebote für Begegnung, Kultur und Beratung der Abschottung entgegenarbeiten. Offen bleibt indes, ob solche Projekte wirklich greifen und von der Zielgruppe wahrgenommen werden. Unbestreitbar aber gilt es, der Tendenz zur Polarisierung in deutschen Städten die größtmögliche Aufmerksamkeit in Politik und Wissenschaft zuzuwenden. Andernfalls wären höchst unerwünschte politische Auswirkungen kein Zufall, warnen die Autoren.
Marcel Helbig / Stefanie Jähnen, Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten. Diskussion Paper Mai 2018, hg. von Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), 195 Seiten
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