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C.H. Beck Verlag, München 2019, 327 Seiten, 24 Euro
Die „Zeit" feierte ihn als Vordenker einer liberal-postmodern widersprüchlichen Periode und Gesellschaft: Armin Nassehi ist Herausgeber der Zeitschrift „Kursbuch“ und hat sich in den vergangenen Jahren als öffentlicher Meisterdenker der soziologischen Theorie hervorgetan. Auch in seinem neuen Buch über die „Theorie der digitalen Gesellschaft“ führt er vor Augen: Digitalisierung heißt nicht bloß Roboter, Künstliche Intelligenz (KI), Datenkraken, Hate Speech und Silicon Valley, sondern ist im Grunde sehr viel älter. Unter dem Titel „Muster“ erforscht der Soziologe den historischen Prozess der Digitalisierung und sorgt für einen Perspektivenwechsel. Armin Nassehis zugespitzte These: Die moderne Gesellschaft war schon digital, bevor es Digitaltechnik gab.
Der an der Münchener Universität lehrende Soziologprofessor kann komplexe Zusammenhänge auf kluge und sehr anspruchsvolle Weise verständlich machen. Armin Nassehi versteht es, mit allzu schlichten Annahmen und naiven Vorstellungen von Gesellschaft aufzuräumen. Die Digitalisierung galt bisher als technologischer Bruch, der die Gesellschaft völlig umgekrempelt hat. Der Autor widerspricht dieser These vehement: „Mir ist aufgefallen, dass über die Digitalisierung so nachgedacht wird, dass man denkt, dass etwas von außen auf die Gesellschaft trifft und die Gesellschaft jetzt darauf reagiert. Was mich eher interessiert, ist die Frage, warum diese Technik in der Gesellschaft so leicht andocken kann, warum das eigentlich eine dieser Gesellschaft adäquate Technologie ist?", fragt Armin Nassehi im Bayerischen Rundfunk BR 24.
Den Ursprung der Digitalisierung verortet der Soziologe im 19. Jahrhunderts. In einem profunden Rückblick zeigt Armin Nassehi, wie damals bereits mithilfe von Sozialstatistiken Verhaltensmuster und Regelmäßigkeiten entdeckt wurden. Moderne Staaten haben sogar schon seit dem 18. Jahrhundert Daten gesammelt. Nach der Entstehung der Nationalstaaten und der Moderne perfektionierte die Digitalisierung diese Datenanalyse, was zu einer „dritten Entdeckung der Gesellschaft“ führte, wie der Autor es nennt. Die Komplexität der gesellschaftlichen Moderne wurde dadurch überhaupt erst sichtbar. Nur so sei es möglich, die Funktionsweisen der modernen Gesellschaft sehr viel präziser nachzuvollziehen als davor.
Eine weitere These von Arnim Nassehi: Technologie kann sich nur durchsetzen, wenn sie den Nerv der Gesellschaft trifft. Und je komplexer und urbaner die Gesellschaft wurde, desto notwendiger war es, Muster im Verhalten der Menschen zu erkennen. Sie verwandelte folglich den einzelnen Menschen in Daten und Zahlen, um Muster sichtbar zu machen, nach denen er sich verhält. Armin Nassehi nennt das „berechenbare Daten“: Beispielsweise glauben Menschen allein deshalb zu heiraten, weil sie den jeweiligen Partner lieben. Die Statistik belegt aber zum einen, dass sich Menschen immer auch nach Faktoren wie Alter, Schicht oder Status richten. Und sie zeigt uns als Usern, dass wir nicht so individuell sind, wie wir glauben, sondern uns nach vorhersehbaren Mustern verhalten. Das ist ernüchternd und ziemlich unromantisch.
Armin Nassehi beginnt seine Suche mit der schlichten Frage: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eigentlich die Lösung?“ Und gibt eine ernüchternde Antwort: „Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst.“ Der Soziologe versteht die Digitalisierung somit nicht als eine Art „Kolonialmacht“, die auf die Gesellschaft zugreift, die sich auf den ersten Blick vehement gegen vermeintliche Folgen wie Arbeitsplatzverluste, Überwachungs- und Kontrolltechniken wehrt. Der Vordenker geht der eigentlich schlichten Frage auf den Grund, was hinter dem Siegeszug der Digitalisierung steckt.
Menschliches Verhalten lässt sich für Armin Nassehi nur dann planen und vorhersagen, wenn man es in berechenbare Daten und Zahlen zerlegt. In der Vergangenheit war es die Schrift, heute sind es digitalisierte Daten: Sie erfassen die gesamte analoge Welt, um die Gesellschaft regierbar zu machen. Auch wenn das heute mit Hilfe einer wesentlich höher entwickelten digitalen Technik geschieht als im 19. Jahrhundert, der Zweck bleibt der gleiche: Die Gesellschaft möglichst stabil zu halten. Anders als die Schrift sind digitalisierte Daten zudem noch endlos verknüpfbar und folglich auf alle gesellschaftlichen Bereiche anwendbar. Die statistische Berechenbarkeit des sogenannten Durchschnittsmenschen steht für den renommierten Soziologen für das neue Ordnungsbedürfnis einer modernen Gesellschaft. Die maschinellen Algorithmen „lesen“ sozusagen die Muster erst in die erhobenen Daten hinein.
Armin Nassehi erklärt zwar nicht, wie es in den letzten zwei Jahrzehnten zu dem vehementen Digitalisierungsschub kam. Stattdessen zeigt er auf, dass die digitale Technik auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen ist, so viele Daten wie möglich zusammenzutragen. Woher auch immer sie kommen. „Der große Unterschied zu früheren Daten besteht darin, dass hier nun Daten ausgewertet werden, die nicht für den genannten Zweck erhoben wurden. Die Datenspuren stammen aus ganz anderen Zusammenhängen und werden erst im Nachhinein zu Informationen für einen bestimmten Zweck", schreibt der Autor. Für ihn im Grunde eine durchaus geeignete Methode, um die Herausforderungen von komplexen, modernen Gesellschaften zu bewältigen.
Der Soziologieprofessor verschweigt aber nicht, dass diese Errungenschaft natürlich auch automatisch zu neuen Problemen – oder, wie es soziologisch heißt – zu „Störungen“ führt. Dass menschliches Verhalten mit rechnerischen Mitteln vorberechnet wird, bezeichnet der Soziologe im Deutschlandfunk (DLF) „als Demütigung“: „Das könnte ein Grund sein, warum sich einige gegen die fortschreitende Digitalisierung wehren.“
Am Beispiel der eigentlich „genialen“ Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) macht der Soziologe deutlich, wie kompliziert das ist. Letztlich seien zwar rechtliche Regulierungen geschaffen worden, die am Smartphone anzeigt, was die Apps mit den Daten machen. Trotzdem macht es die Technik möglich, Daten ohne weiteres weiter zu sammeln und „mit Daten mehr zu machen, als der Einzelne wissen kann“.
Dazu gehören auch die Schubladen, in die man von den Algorithmen gesteckt wird, wie die personalisierte Werbung seiner Meinung nach belegt. „Diese kann schließlich nur erfolgreich sein, wenn der Mensch tatsächlich vorhersehbaren Mustern folgen würde“, so Armin Nassehi im DLF-Interview. Seiner Meinung nach braucht es „intelligentere Steuerungs- und Beobachtungsformen“ als bisher. Genutzt werde die Technik so oder so. Von daher sei es wichtig, die Eigendynamik der digitalen Technik zu verstehen und – ganz entscheidend - gestalten zu lernen.
„Wer über die Stimmung einer bestimmten Gruppe etwas erfahren will, über die Konfliktlagen bestimmter statistischer Gruppen oder deren Vernetzungsbedingungen, kann auf Muster zurückgreifen, die in sozialen Netzwerken anfallen. Wenn man es böse ausdrücken will, dann lassen solche Plattformen die Puppen tanzen. Dieser Tanz ist das Spielmaterial, aus dem verwertbare Daten entstehen."
Für Armin Nassehi ist es letztendlich wichtig nachzuvollziehen, dass Menschen von der Technologie angezogen werden, auch wenn sie eine starke Bedrohung ist. Seiner Meinung nach ist es naiv zu glauben, Warnungen führen zu einem veränderten Nutzungsverhalten. Vielmehr ist es seiner Meinung nach entscheidend, „einen Diskurs zu finden, der tatsächlich zu einem anderen Verhalten führt“, an der Kritik an Digitalisierungsfragen mitzuwirken und herauszufinden, was genau dort passiert. Denn hinter die "digitale Denkungsart" gibt es kein Zurück mehr.
„Muster“ ist ein wichtiges, wenn auch kein leicht zu lesendes Buch. Die oft arg komplizierten Schachtelsätze zwingen, manche Stellen mehrmals zu lesen. Es gibt aber auch immer wieder prägnante und treffende Sätze wie: "Die Digitalisierung ist fremd, weil sie in einer Radikalität auf das Vertraute verweist, wie man es zuvor nicht kannte." „Muster“ macht eindringlich darauf aufmerksam, wie tief die Gesellschaft bereits von digitalen Strukturen durchdrungen ist. Armin Nassehi appelliert dafür, die Digitalisierung nicht einfach nur zu bejubeln oder zu verteufeln, sondern ihr auf den Grund zu gehen. Und er macht deutlich, dass es dringend gesetzlicher Entscheidungen bedarf, um diese Technologien wirksam zu regulieren.
Weitere Informationen
BR24: Warum für Armin Nassehi die Digitalisierung 200 Jahre alt ist
WDR 5 Neugier genügt: Was ist Digitalisierung? – Armin Nassehi
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Susanne Bauer
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