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Also doch: Waldorf-Eltern sind oft gutsituiert, gebildet und alternativ angehaucht. Aber alles ein bisschen anders als oft gedacht und schon gar nicht mit besonderer Vorliebe für biodynamische Ernährung und Handgestricktes, widerspricht Petra Ehrler einer gängigen Vorstellung. Waldorf-Eltern – die unbekannten Wesen? Das lässt sich mit einer großen Studie pünktlich zum 100. Jubiläumsjahr der Waldorf-Schulen nicht länger behaupten. Mitautorin Ehrler, Dozentin an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn, verrät im Interview mit der Trendinfo-Redaktion, was Waldorf-Eltern charakterisiert, welche Werte sie antreiben und welche Reformerwartungen gegenüber dieser Schulform sie haben.
Petra Ehrler: In den letzten Jahren sind bereits einige Studien zur Schulqualität und den Lernerfahrungen von Schülern, dem Erleben der Lehrer und den Absolventen erschienen. Über die Eltern wurde bislang nicht geforscht. Sie sind aber eine wichtige Gruppe, denn Waldorfschulen sind in freier Trägerschaft und werden in der Regel von Eltern ehrenamtlich gegründet und mitverantwortet.
Petra Ehrler: Genau das wollten wir herausfinden. Insgesamt wurden für unsere repräsentative Studie bundesweit fast 7000 Elternteile von 117 Waldorfschulen befragt. Trotz des sehr umfangreichen Fragebogens, mit fast 135 Fragen, antworteten 55 Prozent der Eltern und gaben Auskunft über ihre sozioökonomischen Verhältnisse, über ihre Werte und Einstellungen und ihre Sicht auf die Schule, ihre Kritik und ihre Vorschläge zur Verbesserung.
Petra Ehrler: Annähernd 85 Prozent der Eltern nannten das angstfreie Lernen. Und interessanterweise ist für 82 Prozent der Eltern ein angenehmes menschliches Miteinander an der Schule wichtig. Durch Erkenntnisse der Schulforschung und der Gehirnforschung wissen wir, dass Lernen mit Freude in einer guten Beziehungskultur besser gelingt. Beides zeigt sich in den Wünschen der Eltern.
Petra Ehrler: 57 Prozent der Eltern sehen den Wunsch nach angstfreiem Lernen und 46 Prozent nach einem angenehmen menschlichen Miteinander „voll erfüllt“.
Petra Ehrler: Das Bildungsniveau und der sozioökonomische Status sind bei Waldorf-Eltern überdurchschnittlich hoch, was sich aber – und das hat uns dann doch überrascht – nicht in signifikant höhere Einkommen übersetzt. Etwas platt ausgedrückt üben Waldorf-Eltern anspruchsvolle Tätigkeiten mit unterdurchschnittlichem Verdienst aus. Den „Hauch“ des Alternativen konnten wir tatsächlich messen – allerdings nicht, wie vielleicht erwartet, als Präferenz für biodynamische Ernährung oder Handgestricktes.
Petra Ehrler: Sie sind im Mittel signifikant offener für neue Erfahrungen, legen mehr Wert auf eine selbstbestimmte Lebensführung und bringen Umwelt und Mitmenschen eine höhere Wertschätzung entgegen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Zugleich trachten sie weniger stark nach Konformität, Tradition und Sicherheit.
Petra Ehrler: Zieht man zum Vergleich den Deutschen Freiwilligensurvey heran, eine repräsentative Studie zum ehrenamtlichen Engagement der Bundesbürger, dann wird deutlich, dass bei Waldorf-Eltern der Anteil derer, die sich gesellschaftlich engagieren, weitaus höher ist als im Bundesdurchschnitt. Diese Eltern engagieren sich vor allem in sozialen und kulturellen Bereichen.
Petra Ehrler: Fast ein Drittel aller Waldorf-Eltern haben mindestens ein Kind, das von einer staatlichen zu einer Waldorfschule gewechselt ist. Als Wechselgründe geben sie neben der Hinwendung zu der besonderen Waldorfpädagogik auch die Abwendung von hohem Leistungsdruck und Schulangst an.
Petra Ehrler: Die Umsetzung der Waldorfpädagogik einerseits und das Fordern und Fördern von Leistung andererseits sind tatsächlich zwei Punkte, über deren Stellenwert die Meinungen der Waldorf-Eltern weit auseinandergehen. Es wäre völlig verfehlt, „die“ Waldorf-Eltern in eine gedankliche Schublade zu stecken.
Petra Ehrler: Ein erheblicher Teil der Eltern ist von den gleichen Motiven angetrieben wie andere Schul-Eltern, etwa gute Leistungen und ein staatlich anerkannter Abschluss für ihre Kinder. Unterschiede, die wir feststellen, beziehen sich also immer auf die allgemeine Tendenz, nicht auf den Einzelfall – das war uns aber von vornherein bewusst und hat uns nicht überrascht.
Petra Ehrler: Persönliche Entfaltung und Leistungsorientierung schließen sich – auch in den Augen der Waldorf-Eltern – nicht gegenseitig aus. Vielmehr ist ja das individuelle Eingehen auf die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Fortschritte des Einzelnen generell ein zentraler Erfolgsfaktor für Unterrichtsqualität und Lernfortschritt. Auch wenn es abgedroschen klingen mag: Hierfür gibt es kein verallgemeinerbares Patentrezept, sondern es erfordert engagierte und kompetente Lehrkräfte, die sich das zur täglichen Aufgabe machen.
Petra Ehrler: Die organisatorischen Strukturen an den Waldorfschulen bereiten den Eltern große Sorgen. Sie nehmen die Selbstverwaltungsbedingungen kritisch in den Blick und wünschen sich effizientere Formen. Eltern werden vermutlich nicht mehr länger bereit sein, sich mit ungenügenden Formen des organisatorischen Miteinanders zufrieden zu geben. Sie wünschen sich mehr Transparenz, mehr Offenheit und ein vertrauensvolleres Miteinander. Es gilt, die Ängste und Sorgen der Eltern wahrzunehmen, sie ernst zu nehmen.
Petra Ehrler: Aus einigen ihrer Angaben lassen sich schulübergreifende Entwicklungshinweise für die Waldorfpädagogik grundsätzlicher Art erkennen. So etwa bei den Themen Lerntechniken, Projektorientiertes Lernen, Ferienkurse, Schüler unterrichten Schüler sowie Nachhilfe. Sowohl ein Angebot von Ferienkursen als auch freie Verfügungsstunden für frei gewählte Neigungs- und Interessenthemen könnten gut mit anderen gewünschten Themen kombiniert werden, z.B. soziale Projekte, gesunde Lebensführung, Soft Skills und Umgangsformen oder Natur- und Erlebnispädagogik.
Petra Ehrler: Viele Eltern betonen die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung. So solle etwa die Waldorfschule die Kinder auf das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft vorbereiten und mehr wirtschaftliche, finanzielle und rechtliche Kompetenzen vermitteln. Auch die Arbeitswelt habe sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert – und Unterricht müsse darauf verstärkt eingehen. Dieser Sichtweise der Eltern schließen wir uns als Autoren der Studie an. Ebenso der Forderung vieler Eltern, dass die Modernisierung im Einklang mit den traditionellen Werten der Waldorfpädagogik geschehen müsse. Man solle sich der Moderne stellen, ohne die Tradition zu verleugnen, man dürfe nicht weltfremd werden, aber auch nicht jeden Impuls von Neuheiten aufnehmen, so einige Voten.
Petra Ehrler: Wir sind der dezidierten Auffassung, dass die darin zum Ausdruck kommende Ambivalenz zwischen traditionalistischen und modernistischen Sichtweisen an der einzelnen Waldorfschule vor Ort zu thematisieren ist, um mit Blick auf ihre Kernqualitäten und die Anforderungen ihrer Umgebung die eigene zukünftige Ausrichtung zu ermitteln. Unseres Erachtens braucht nicht die Waldorfschulbewegung als Ganzes ein stärker konturiertes Profil, sondern die Einzelschule vor Ort muss sich mit diesen Fragen intensiv auseinandersetzen.
Steffen Koolmann / Lars Petersen / Petra Ehrler, Waldorf-Eltern in Deutschland. Status, Motive, Einstellungen, Zukunftsideen . Beltz Verlag, Weinheim 2018, 279 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-7799-3761-6
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