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„Ich bin dann mal weg“, so beschrieb eine Fresenius-Studie die alarmierende Stimmung der Fachkräfte in den Therapeutenberufen (2017). Demnach ist jeder vierte Physiotherapeut, Logopäde, Ergotherapeut und Podologe aus seinem Beruf ausgestiegen, knapp zwei Drittel der verbliebenen Therapeuten denken darüber nach. Als Gründe für die desolate Lage fand Studienleiterin Prof. Dr. Sabine Hammer fehlende berufliche Aussichten, eine Vergütung knapp über dem Mindestlohn, wenig gesellschaftliche Anerkennung und geringe berufspolitische Schlagkraft heraus. Die aktuelle Folgestudie „Ab in die Zukunft“ wendet sich der Frage zu, wie Fachkräfte im Beruf gehalten werden können.* Im Interview mit der Trendinfo-Redaktion erläutert Sabine Hammer zentrale Erkenntnisse.
Redaktion: Frau Prof. Hammer, Sie haben ein breites Meinungsbild zur Situation der Therapeuten erhoben. Wie sehen die Studienteilnehmer die Frage des Fachkräftemangels?
Prof. Dr. Sabine Hammer: Bis auf einzelne Aussagen sind sie der Meinung, dass der Fachkräftemangel längst vorhanden ist und eine Unterversorgung der Bevölkerung droht. Interessanterweise ist der genannte Therapeutenmangel deutlich höher als von der Bundesagentur für Arbeit ermittelt. Jeder befragte Praxisinhaber bzw. leitende Therapeut gibt mindestens eine vakante Stelle an. Eine Stelle bleibt durchschnittlich 250 Tage unbesetzt. Patienten warten 32 Tage auf ihre Behandlung, in der Spitze sogar 50 Tage.
Was bedeutet diese Mangelsituation für Therapeuten?
Einerseits versuchen die Therapeuten, die Wartezeiten von Patienten durch rund sechs Überstunden pro Woche zu verkürzen. Andererseits profitieren sie auch von geringer Arbeitslosigkeit, mehr Aufmerksamkeit seitens der Politik und Kostenträger und einer erhöhten Attraktivität ihres Berufs.
Dennoch spricht Ihre Studie von einer Gratifikationskrise der Therapieberufe. Was meinen Sie damit?
Eine Gratifikationskrise liegt vor, wenn die persönliche Arbeitsleistung größer ist als die wahrgenommene Belohnung im Sinne von Anerkennung, beruflichen Entwicklungschancen, Arbeitsplatzsicherheit und Gehalt. Therapeuten leiden generell unter mangelnder Wertschätzung, wobei das Gehalt besonders wichtig ist. Das durchschnittliche Bruttomonatsentgelt liegt laut Befragung bei 2.435 Euro und damit 1.336 Euro unter dem durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst von Arbeitnehmern im Jahr 2017. Nur die Hälfte der angestellten Therapeuten hat seit der Abkopplung von der Grundlohnsummenanbindung und des Gesetzes zur Erhöhung der Leistungsvergütungen 2017 eine Gehaltserhöhung bekommen – im Schnitt zwischen 3 und 3,5 Prozent.
Geld ist wichtig, aber nicht alles. Welchen Stellenwert hat die persönliche Entscheidungsfreiheit der Beschäftigten für ihre Zufriedenheit?
Tatsächlich könnte mehr Autonomie im Berufsalltag die Therapeutenberufe attraktiver machen. Mehr als 90 Prozent der Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten und Podologen sehen sich imstande, mit Blankoverordnung zu arbeiten, also selbst über Umfang und Inhalte der Therapie zu entscheiden. Dreiviertel der Befragten trauen sich auch den Direktzugang zu, die Behandlung ohne ärztliche Verordnung. Allerdings sind Fragen der Haftung noch nicht hinreichend geklärt.
Wie steht es um die Interessenvertretung der Therapieberufe?
Dieser Aspekt spielte in unseren Interviews mit den Experten eine zentrale Rolle. Während die Vertreter der Berufsverbände fast einstimmig der Meinung waren, dass sie selbst Einflussmöglichkeiten haben und erfolgreich nutzen, sind die Therapieberufe als Lobbygruppe für die befragten externen Experten des Gesundheitswesens mehrheitlich kaum wahrnehmbar. Sie führen das darauf zurück, dass die Verbände zu klein sind und es an gemeinsamen berufspolitischen Zielen fehlt.
Welche Schlussfolgerungen zieht die Studie daraus?
Die von uns befragten Gesundheitsexperten empfehlen oder fordern sogar eine einheitliche Interessenvertretung aller Therapeuten, um deren Anliegen in Gesellschaft und Politik künftig mehr Gehör zu verschaffen. Die Meinung der Therapeuten zielt mehrheitlich in dieselbe Richtung.
Wie geht es mit den Therapeutenberufen weiter?
Im Anschluss an die öffentliche Präsentation der Studie fand eine Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Politik und Verbänden statt. Dabei ging es um das vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlichte Eckpunktepapier und um Sinn und Zweck einer Therapeutenkammer. Insbesondere die Vertreter aus Politik und Gesundheitswesen rieten dringend zur Etablierung einer Therapeutenkammer, um den politischen Einfluss der Heilmittelerbringer zu stärken und die Berufsbedingungen grundlegend zu verbessern. Die Verbände hingegen sind in dieser Frage noch zögerlich.
Welche Wege zur besseren Interessenvertretung der Therapieberufe sehen Sie persönlich?
Mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass ohne Therapeutenkammer die Interessen der Heilmittelerbringer langfristig nicht in ausreichendem Maß durchgesetzt werden können. Ein weiteres Ziel wäre aus meiner Sicht, den schulischen Bildungsweg abzuschaffen, wie in allen anderen europäischen Ländern. Eine Berufsqualifikation mittels Hochschulstudium ist notwendig, um den steigenden Anforderungen an den Beruf gerecht zu werden und Autonomie, Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten für Therapeuten zu schaffen.
*An der Studie basiert auf Interviews mit Experten, Entscheidungs- und Kostenträgern sowie einer Online-Befragung von 1.800 Therapeuten. Davon sind die Hälfte Physiotherapeuten, ein Viertel Ergotherapeuten, ein Fünftel Logopäden und fünf Prozent Podologen. Die Untersuchung setzt die Studie der Fresenius Hochschule Idstein „Ich bin dann mal weg“ von 2017 fort (siehe BFS-Trendinfo 1/18).
Die Veröffentlichung der Studie in Fachzeitschriften ist in Planung.
Kontakt:
Prof. Dr. Sabine Hammer
Studiengangsdekanin Master Therapiewissenschaften
Hochschule Fresenius Idstein – Fachbereich Gesundheit & Soziales
E-Mail
www.hs-fresenius.de
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