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Klett Cotta Verlag Stuttgart 2023, 256 Seiten, 22 Euro
Katrin Böhning-Gaese gilt als eine der bedeutendsten Forscherinnen zur Biodiversität in Deutschland und berät als Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher, besser bekannt als Leopoldina, Politik und Wirtschaft. Wie sehr der Artenverlust unsere Existenz bedroht, darüber hat die Professorin für Biodiversität auch an der Goethe Universität Frankfurt geforscht. Ihr erstes Buch schrieb Katrin Böhning-Gaese gemeinsam mit der Journalistin Friederike Bauer: „Vom Verschwinden der Arten“. Im Gespräch mit unserer BFS-Trendinfo-Autorin Maicke Mackerodt erklärt Katrin Böhning-Gaese, wie der Kampf um die Zukunft der Menschheit gelingen könnte.
Die Botschaft von Katrin Böhning-Gaese ist unmissverständlich: Für die renommierte Biologin gehört das Artensterben zu den größten Bedrohungen der Menschheit und ist untrennbar mit der Klimakrise verbunden. Der Klimawandel hat ihrer Meinung nach mit dem Artensterben eine große Schwester bekommen. Die öffentliche Debatte dreht sich vor allem um Extremwetter und Naturkatastrophen, viel zu wenig fällt ins Gewicht, dass die Natur allmählich still und leise verstummt. Auf der Erde gibt es geschätzt acht Millionen Arten, etwa eine Million ist akut vom Aussterben bedroht.
Eine schier unbegreifliche Zahl. Vor allem, wenn man wie Katrin Böhning-Gaese weiß, dass die Aussterberaten heute mindestens zehn bis hundert Mal über der Rate der letzten zehn Millionen Jahre liegen. Wir erleben aktuell das sechste große Massensterben der Erdgeschichte, das fünfte war, als die Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren ausgestorben sind. „Mich rüttelt es auf, seitdem mir das alles immer bewusster wird“, sagt Katrin Böhning-Gaese im Interview: „Ich bin deshalb nicht nur in der Wissenschaft aktiv, sondern auch ganz stark in der Politikberatung und kommuniziere mit den Medien“.
Die Biodiversitätsforscherin erlebt, dass viele Menschen gar nicht mehr wahrnehmen, wie auch die Biodiversität um sie herum verschwindet. „Wer kennt heute noch die ganzen Feldvögel, von der Feldlerche bis zum Rebhuhn? Wer hat wahrgenommen, wie wenig davon jetzt noch übrig ist?“ Es ist für die Wissenschaftlerin „eine bittere Erkenntnis, dass wir Menschen immer mehr den Kontakt zur wilden Natur verlieren“. Es sollten Maßnahmen ergriffen werde, den Menschen wieder mehr in Kontakt mit der Natur zu bringen. Das sei wichtig für die Natur, für uns selbst, für die eigene Gesundheit.
„Vom Verschwinden der Arten“ sei ihre „gefilterte Erfahrung von 35 Jahren wissenschaftlicher Arbeit und Beobachtungen in der Natur“, so die Direktorin vom "Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum" (BiK-F) über ihr erstes Buch. Katrin Böhning-Gaese wurde für ihre Spitzenforschung und ihr Engagement in der Politik- und Gesellschaftsberatung 2021 mit dem Umweltpreis der Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet.
Und seit ihrer ersten Forschungsreise als Doktorandin nach Madagaskar schlägt ihr Herz vor allem für Afrika. Seit 2010 erkundet die Biologin am höchsten Berg Afrikas, dem Kilimandscharo in Tansania, die dortigen Ökosysteme. Hier findet sie Savanne, Bergregenwälder und intensiv genutzte landwirtschaftliche Flächen. Für die passionierte Ornithologin ein idealer Platz, um den Lebensraum von Vögeln wie dem Bienenfresser zu erforschen, der in Afrika überwintert und dabei Erkenntnisse über ein nachhaltiges Miteinander von Natur und Mensch zu gewinnen. Dort sind sowohl Massai mit ihren Rinderherden als auch internationale Touristen unterwegs.
Die Makroökologin hat viel in Afrika gearbeitet und möchte ihre Erfahrungen und Erlebnisse auch für die eigenen Kinder und für die nächsten Generationen erhalten. „Ich würde mal sagen, das sind Sachen, die meine Grundmotivation tragen, mich für das Thema einzusetzen.“ Wenn man in einem Nationalpark ist und nachts lauscht, die Löwen hört und merkt, dass die Tiere auch direkt ums Zelt aktiv sind, „das berührt mich auf eine so tiefe Art und Weise, wie ich das vorher nicht geahnt habe. Das gibt so eine Schwingung, so eine Naturerfahrung, die man fast als spirituell bezeichnen könnte“. Da habe sie gemerkt, dass Natur eine unglaubliche Kraft hat und dass solche Schutzgebiete, wo solche Arten leben können, eine unglaubliche Kraft entfalten.
Für die Wissenschaftlerin ist ohne die Vielfalt der Arten das Überleben auf unserem Planeten kaum möglich. Die Biodiversität sei die Existenzgrundlage des Menschen, sagt Katrin Böhning-Gaese. Fast alles, was wir brauchen, kommt zu Dreiviertel aus der Natur: Sauberes Trinkwasser, Nahrung, Kleidung, Bauholz – die Verfügbarkeit dieser Dinge ist von intakten Ökosystemen abhängig: „Beim Schutz des Klimas geht es darum, wie wir als Menschheit in Zukunft auf der Erde leben. Beim Artenschutz geht es darum, ob wir als Menschheit auf der Erde überleben."
Die Biodiversitätsforscherin ist darüber besorgt, dass der Bestand der Nutztiere in den vergangenen Jahren sprunghaft gestiegen ist. Für Katrin Böhning-Gaese ist klar, „dass wir seit etwa 70 Jahren die Erde ganz ausschließlich zu unseren Gunsten prägen“. Hühner seien von der Körpermasse seit etwa 1950 massiv gewachsen und schwerer geworden. „Ganz abgesehen davon stehen 23 Milliarden Hühner etwa acht Milliarden Menschen gegenüber. Auf jeden Menschen kommen etwa vier Hühner.“
Das bedeutet für die renommierte Forscherin, dass es sinnvoll ist, letztendlich einen „ganzen Systemwechsel ins Auge zu fassen“, und zwar auch bei der Wirtschaft, bei den Vermarktungsketten oder bei der Bewerbung von verschiedenen Produkten. Es muss sich ihrer Meinung nach auch in der Politik etwas ändern: Dass Chancen genutzt werden, mit Anreizen oder mit Steuern das System in eine richtige Richtung zu lenken, hin eben zum Verhalten jedes Einzelnen von uns, bei der Ernährung oder beim Konsum. „Daraus kann man ganz klare Maßnahmenpakete ableiten, was getan werden sollte, wenn wir die Biodiversität wieder erhöhen wollen.“
„Die Natur ist politisch. Sie geht uns alle an“, davon ist Katrin Böhning-Gaese zutiefst überzeugt. Bereits das Naturschutzabkommen von Montreal Ende vorigen Jahres fand die Forscherin „grandios“, es fehlten ihr allerdings noch konkrete Ziele der Renaturierung. Jetzt ist die Makroökologin „total begeistert“, dass Europa mit dem kürzlich beschlossenen Renaturierungsgesetz wirklich zum Pionier wurde. Ihrer Meinung nach gibt es weltweit kein Renaturierungsgesetz, dass solche „Zähne“ hat, wie die Forscherin es ausdrückt, weil die einzelnen Nationen jetzt tätig werden müssen.
Der starke Konsens im europäischen Parlament hat Katrin Böhning-Gaese überrascht, im Gegensatz zum Klimaschutz sind sich hier alle Parteien einig, dass es wichtig ist, die Natur zu schützen. „Für mich waren bei der Recherche zum Buch die ganzen politischen Dimensionen neu.“ Da habe sie sich hart einarbeiten müssen, von den internationalen Konventionen wie zur Biodiversität bis hin zu den Prozessen, die derzeit in Brüssel auf der EU-Ebene laufen. „Wesentliche war für mich die Erkenntnis, dass diese internationalen Prozesse visionär und ehrgeizig sind, dass wir beim versammelten Willen der verschiedenen Nationen, die um einen Tisch stehen, großen Konsens haben.“ Die „sehr ehrgeizige Biodiversitätsstrategie“ und wichtige Bausteine wie das Renaturierungsgesetz werden jetzt wohl wirklich auch in Arbeit genommen. „Ich finde, man kann stolz sein auf die Visionen der Weltengemeinschaften und Europas.
Hauptursache für das Artensterben ist für die Biologin ganz klar die Landnutzung, dazu gehören die Land- und Forstwirtschaft und die Fischerei. Das erfüllt die zweifache Mutter Katrin Böhning-Gaese mit tiefster Sorge, gepaart mit dem Gefühl der Verantwortung für die nächste Generation. Trotzdem ist der Blick der beiden Autorinnen, der Wirtschaftsjournalistin Friederike Bauer und Katrin Böhning-Gaese, in die Zukunft voller Hoffnung, dass wir die Artenvielfalt und damit uns selbst retten können.
Zu den notwendigen Maßnahmenpaketen gehört für die Biodiversitätsforscherin erstens: große Schutzgebiete einzurichten und zu renaturieren. Das Zweite wäre, „dass wir tatsächlich eine produktive, aber nachhaltige Landwirtschaft brauchen“. Bei uns im globalen Norden hieße das, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Düngung ein bisschen zurückfahren, im globalen Süden dagegen die Intensität erhöhen, damit sich die Landwirtschaft nicht in die tropischen Wälder oder in die Savannen gräbt. Und das dritte Maßnahmenpaket: Wir müssen runter von unserer Lebensmittelverschwendung und uns Pflanzenbasierter ernähren. „Das Gute ist, dass es in der Zwischenzeit durchaus Modelle gibt, wie unterschiedliche Zukünfte aussehen können. Und da gibt es eben auch Zukünfte, die positiv sind, wo die Biodiversität auf der Erde wieder ansteigt.“
„Vom Verschwinden der Arten. Der Kampf um die Zukunft der Menschheit“ ist eine sehr kluge, gut zu lesende Bestandsaufnahme, teils erschreckend düster, aber gleichzeitig auch überraschend optimistisch. Mit ihrem Überblick machen die beiden Autorinnen klar, dass die Klimakrise und das Artensterben nur gemeinsam gelöst werden können – und fordern eindringlich zu ganzheitlichem Handeln auf.
Weiterführende Links:
"Vom Verschwinden der Arten": Kampf um die Zukunft der Menschheit
Die großen Muster der Erde verstehen
Katrin Böhning-Gaese/ Friederike Bauer: „Vom Verschwinden der Arten“
Biologin: So gefährlich ist Artensterben für die Menschheit
alle abgerufen am 28.08.2023
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