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Der serbische Staatschef Aleksandar Vučić diffamiert Journalisten als „Lügner“ und „Spione“, in Brasiliens lassen Agrarunternehmer indigene Regenwaldbewohner umbringen, in Deutschland sollen Politiker*innen am Internet-Pranger mundtot gemacht werden: Extreme Beispiele aus unterschiedlichen Regionen, aber längst keine Ausnahmefälle mehr. Fast überall auf der Welt, wo Menschen das freie Wort gegen Korruption, Umweltzerstörung oder Landraub erheben, sind die politischen Spielräume kleiner, zum Teil lebensgefährlich eng geworden. Das evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ nimmt in dem aktuell dritten „Atlas der Zivilgesellschaft 2020“ eine düstere Bestandsaufnahme der globalen Erosion demokratischer Grundrechte vor.
Auch in Europa mehren sich autokratische Tendenzen. In 153 von 196 Staaten behindern Regierungen das Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung, werden Menschen bedrängt oder bedroht, wenn sie sich politisch einmischen. Die Studie stützt sich auf Recherchen des internationalen Netzwerks Civicus zwischen Oktober 2018 bis November 2019. Ein Schwerpunkt ist die Bedrohung politisch aktiver Frauen.
Die Staaten werden fünf Kategorien zugeordnet: von „offen“ über „beeinträchtigt“, „beschränkt“ und „unterdrückt“ bis „geschlossen“.
Die meisten gemeldeten Angriffe auf zivilgesellschaftliche Aktivitäten im Untersuchungsraum waren laut der Studie von Brot für die Welt gegen Frauen gerichtet. Häufige Erscheinungsformen der Attacken waren bzw. sind Hassbotschaften und sexualisierte Belästigung in sozialen Medien, sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung und Mord. Weit verbreitet ist, zugleich die Kinder und Familien dieser Frauen zu bedrohen.
Warum trifft es so oft Frauen? In vielen Ländern sind sie vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, sozioökonomisch und juristisch nicht gleichgestellt und schon daher prinzipiell verletzlich. Sie und ihre Organisationen seien es häufig, „die Entwicklungs- und Versöhnungsprozesse tragen und positive Veränderungen anstoßen", begründet die Studie. In Ländern Lateinamerikas werden sie zur Zielscheibe von korrupten Politikern, Investoren und Großgrundbesitzern, weil sie sich für Landrechte und Umweltschutz stark machen; in fundamentalistisch-islamischen Ländern wehren sie sich gegen patriarchale Unterdrückung. Auch in Europa müssen politisch aktive Frauen mit Bedrohungen rechnen: Beispielhaft steht dafür die Ankündigung britischen Parlamentarierinnen vor dem Unterhauswahlen Ende 2019, wegen sexueller Bedrohung nicht mehr anzutreten. Die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox kurz vor dem Brexit-Referendum wirkte nach.
Hinter dieser Entwicklung stehen laut Atlas nationalistische Parteien und fundamentalistische politische und religiöse Gruppierungen. Sie sind weltweit auf dem Vormarsch und hervorragend vernetzt. Ihr Ziel: zurück zur traditionellen Familie, zu tradierten Machtstrukturen und Geschlechterrollen. Frauen, Homosexuelle und ethnische Minderheiten sollen eingeschüchtert und in ihren Rechten beschnitten werden. Der Atlas der Zivilgesellschaft fasst zusammen: „In allen Teilen der Welt zahlen Frauen einen besonders hohen Preis für ihr politisches und gesellschaftliches Handeln.“
Eine aktive Zivilgesellschaft ist für die demokratische Entwicklung eines Landes unabdingbar. „Shrinking Space“, der seit einigen Jahren schrumpfende Entfaltungsraum zivilgesellschaftlicher Organisationen, sollte entschlossen beim Namen genannt und zurückgewiesen werden, fordert die Studie. Tatsächlich erleben wir in jüngster Vergangenheit ganz unterschiedliche Protestaktivitäten: Demonstrationen gegen politische Unterdrückung in Hongkong und Russland, für einen radikalen Klimaschutz weltweit sowie die Arbeit zahlreicher Frauen und Frauenrechtsorganisationen in den Ländern des globalen Südens.
Mit der Corona-Pandemie, genauer, den politischen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung, erhält das Thema eine ungeahnte Brisanz mit offenem Ausgang. In atemberaubendem Tempo werden weltweit Grundfreiheiten aufgehoben, ist von Notstand und Ermächtigung die Rede. UN-Generalsekretär Antonónio Guterres mahnte aktuell die Einhaltung der Menschenrechte im Kampf gegen das Coronavirus an, und warnte, die Krise als Vorwand für repressive Politik zu missbrauchen. Weltweit geschieht genau das: In Ungarn hat Regierungschef Viktor Orban mit einem Notstands-Dekret das Parlament entmachtet, China baut den Überwachungsstaat aus, US-Präsident Trump beansprucht „allumfassende Macht“. Natürlich muss alles getan werden, um die Pandemie zu besiegen, die Politik darf aber den Blick für die Verhältnismäßigkeit und zeitliche Begrenzung der Eingriffe nicht verlieren. Stellvertretend für viele Warnungen sei hier die Bestsellerautorin und Verfassungsrichterin Juli Zeh zitiert: „Eine Pandemie, die Menschen krank macht, ist schlimm genug. Eine Pandemie, die den Rechtsstaat befällt und die freiheitliche Gesellschaft womöglich unheilbar erkranken ließe, wäre noch schlimmer.“
Christian Jakob / Christine Meissler / Carsta Neuenroth / Nils Utermöhlen, Atlas der Zivilgesellschaft 2020. Report zur weltweiten Lage. Hg.: Brot für die Welt, Berlin 2020, 82 Seiten
www.brot-fuer-die-welt.de/themen/atlas-der-zivilgesellschaft
Siehe zum Thema auch das Interview mit Dr. Rupert Graf Strachwitz, Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin: „Bedroht der Staat die Demokratie? Repressive Maßnahmen häufen sich!“, BFS-Trendinfo 10/2019
Juli Zeh, Grundrechte sind kein Luxus nur für gute Zeiten, Focus 15/2020 (abgerufen: 15.04.2020)
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