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Gesundheits-/Sozialwirtschaft aktuell, Oktober 2020
Noch in dieser Legislaturperiode soll die Pflegeversicherung eine grundsätzliche Neuausrichtung erfahren. Die Corona-Pandemie rückte das Vorhaben in den Hintergrund. Nun hat der Bundesgesundheitsminister die Debatte mit konkreten Reformvorschlägen neu gestartet.
Nach den von Jens Spahn vorgestellten Plänen könnte eine Pflegereform auf drei Säulen beruhen:
Die Mehrkosten für diese Reformschritte werden vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf sechs Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt. Finanziert werden soll dieser Betrag vollständig aus Steuermitteln – also als Zuschuss aus dem Bundeshaushalt an die Pflegeversicherung.
Um die finanziellen Belastungen einer Pflegebedürftigkeit für die privaten Haushalte „berechenbar“ zu machen, sollen Bewohner*innen stationärer Pflegeeinrichtungen für die Grundpflege und Betreuung künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat aus eigener Tasche bezahlen – insgesamt also maximal 25.200 Euro. Danach würden die Pflege- und Betreuungskosten komplett von den Pflegekassen übernommen. Von dieser Deckelung nicht erfasst sind die Miete (Investitionskosten) und die Lebenshaltungskosten (Unterkunft und Verpflegung). Diese Leistungsbausteine liegen nicht in der Finanzierungsverantwortung der Pflegeversicherung. Der Eigenanteil am gesamten Heimentgelt beträgt nach Angaben des Verbands der Ersatzkassen (vdek) aktuell bundesdurchschnittlich 2.015 Euro pro Monat.
Mit seinem Vorschlag greift Spahn das Reformkonzept „Sockel-Spitze-Tausch mit Karenzzeit“ auf, welches von der Initiative Pro-Pflegereform auf Basis von Gutachten des Gesundheitsexperten Prof. Dr. Heinz Rothgang bereits 2017 in die Reformdebatte eingebracht wurde (www.pro-pflegereform.de). Der Sockel-Spitze-Tausch mit oder ohne Karenzzeit findet bei den an der Diskussion beteiligten Parteien, Verbänden und Organisation breite Zustimmung.
Umstritten ist dagegen die jetzt vom Minister vorgeschlagene Umsetzungsvariante. So berücksichtigt der pauschale Betrag von 700 Euro pro Monat nicht die großen Unterschiede in den entsprechenden Eigenanteilen zwischen den Bundesländern. Nach Zahlen des vdek wird in der Hälfte der Bundesländer der genannte Kostenhöchstwert im Durchschnitt nicht erreicht. Bundesdurchschnittlich liegt der Eigenanteil laut vdek bei 786 Euro. Daher würden viele Pflegeheimbewohner trotz der Deckelung zunächst weiterhin mit steigenden pflegebezogenen Eigenanteilen konfrontiert sein. Zudem wird eine stärkere Berücksichtigung der individuellen Einkommenssituation bei der Eigenbeteiligung gefordert.
Eine substanzielle finanzielle Entlastung der privaten Haushalte wird sich durch die vorgeschlagene Deckelung erst mittel- bis langfristig ergeben. Insbesondere schottet der Reformschritt die Selbstbeteiligung von den voraussichtlich nachhaltig steigenden Kosten der Leistungserbringung ab – v. a. durch eine höhere Bezahlung der knappen Pflegefachkräfte. So hat die Krankenkasse DAK-Gesundheit für das derzeitige System einen bis auf knapp 1.900 Euro pro Monat steigenden Eigenanteil bis 2045 berechnet.
Hinsichtlich der finanziellen Entlastung der Pflegebedürftigen fehlt vielen Kritikern an Spahns Reformvorschlägen ein anderer zentraler Aspekt: Die Verlagerung der Kosten für die medizinische Behandlungspflege in stationären Pflegeeinrichtungen von der Pflegeversicherung in die Krankenversicherung.
Vor dem Hintergrund der ebenfalls dynamischen Anstiege bei den Leistungskomponenten Unterkunft und Verpflegung sowie Miete bzw. Investitionskosten, verstärken z. B. die Gewerkschaften ihre Forderung zur Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Vollversicherung nach dem Vorbild der Krankenkassen.
Interessensvertreter für alternative Wohnformen der Seniorenhilfe, z. B. ambulant betreuter Wohngemein-schaften, sehen in den Reformvorschlägen eine einseitige Privilegierung vollstationärer Pflegeeinrichtungen zu Lasten entsprechender Wohn- und Pflegesettings. Infolge eines exklusiven Eigenkapitaldeckels für die stationäre Pflege, befürchtet z. B. der Fachverband Wohnen in Gemeinschaft (wig) künftige Preisunterschiede von ca. 200 % zwischen Pflegeheimen und Wohngemeinschaften. Dies bedrohe die Marktfähigkeit der Wohngemeinschaften und führe potenziell zu einer behördlichen Versorgungssteuerung in Richtung der Heimunterbringung.
Da wie oben beschrieben eine substanzielle finanzielle Entlastung von Pflegebedürftigen in stationären Ein-richtungen mit den Reformansätzen erst mittel- bis langfristig eintreten würde, sollten sich die befürchteten Nachfrageverschiebungen von ambulant betreuten Wohnformen in die stationäre Pflege kurzfristig nicht einstellen.
Weitere Reformansätze, die in den letzten Jahren intensiv untersucht und diskutiert wurden, finden in den Plänen des BMG bisher keine Berücksichtigung. Neben der schon angesprochenen vollständigen Verlagerung der medizinischen Behandlungspflege in das SGB V gehört hierzu insbesondere der leistungsrechtliche Abbau von Sektorengrenzen. Konkret gefordert werden in diesem Zusammenhang u. a. eine wohnortunabhängige Ausgestaltung der Leistungsansprüche auf Pflege und Betreuung, eine weitergehende Förderung der Laienpflege und die Schaffung eines kommunalen Care- und Case-Managements.
Die vorliegenden Reformvorschläge zielen vorrangig auf eine mittel- bis längerfristige Stabilisierung der sozialen Pflegeversicherung ab. Spürbare leistungsrechtliche Impulse für eine veränderte Inanspruchnahme verschiedener Wohn- und Pflegesettings und eine entsprechende Veränderung der Versorgungsstrukturen sind nicht zu erkennen. Der Effekt der angekündigten Flexibilisierung bei Leistungen, welche die häusliche Pflege unterstützen, wird abhängig sein von ihrer konkreten Ausgestaltung und v. a. der tatsächlichen Verfügbarkeit entsprechender Angebote. Sowohl zahlreiche Aspekte der bisherigen Reformdebatte als auch die veränderten Rahmenbedingungen infolge der Corona-Pandemie finden in den Vorschlägen noch keine Berücksichtigung. Insofern ist in den nächsten Monaten mit intensiven Diskussionen über die anstehenden Weichenstellungen bei der Sozialen Pflegeversicherung zu rechnen.
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