
„Verantwortung wahrnehmen“ – so lautete das Leitthema des 12. Kongresses der Sozialwirtschaft. Vom 21. bis 23. September 2022 trafen sich in Magdeburg rund 200 Führungskräfte der Branche zum Austausch und auf der Suche nach neuen Impulsen. Nach der Corona geschuldeten Zwangspause befassten sich die Kongressveranstalter – die Bank für Sozialwirtschaft, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und der Nomos Verlag – mit dem Thema Verantwortung: In drei Impulsvorträgen, einer Diskussionsrunde und fünf Workshops ging es um Wettbewerb und Gemeinwohl, Strategie und Organisation, Nachhaltigkeit und Resilienz.
Verantwortung als Managementaufgabe
Im Eröffnungsvortrag appellierte Thomas Beschorner, Wirtschaftsethiker der Universität St. Gallen, an Unternehmen, Verantwortung für gesellschaftliche Fragen zu übernehmen. Dies gelte auch für Organisationen der Sozialwirtschaft, die sich nicht mit dem Selbstverständnis „Wir sind doch die Guten!“ zurücklehnen dürften. Alle Unternehmen sollten von sich aus auf gesellschaftliche Ereignisse und Zustände eingehen. Um die Übernahme sozialer, moralischer und ökologischer Verantwortung als Unternehmen strategisch anzugehen, bedürfe es einer wertebasierten Unternehmensführung und der Selbstverpflichtung zum verantwortlichen Wirtschaften. Unternehmen sollten sich an klare Werte binden, um Erfolg und Moral zusammenzubringen. Wie Unternehmen Verantwortung organisatorisch verankern können, erläuterte Beschorner in vier Schritten:
- Vision und Mission des Unternehmens auf der Basis von Werten definieren.
- Stakeholder identifizieren: Wer ist von welchen Entscheidungen betroffen?
- Issue Management: In einer Wesentlichkeitsanalyse sollten die Themen festgelegt werden, die vorrangig behandelt werden.
- Verantwortung als Managementaufgabe definieren und organisieren.
„Dies betrifft alle denkbaren Abteilungen und Handlungsfelder sozialwirtschaftlicher Organisationen“, sagte Beschorner. Sich ausschließlich auf integres Handeln der Mitarbeitenden zu verlassen, sei zu kurz gegriffen. Die Verantwortung müsse in Regeln, Prozessen und Strukturen in der Organisation verankert sein. Dies gelinge nur, wenn die Geschäftsführung dahinter stehe und sowohl Geld als auch fachkundiges Personal bereitstelle.
„Entwickeln heißt verwandeln.“ (Eric Carle)
„Der schwarze Schwan ist gelandet.“ Mit dieser Metapher machte Gitta Bernshausen, Vorständin beim Sozialwerk St. Georg, in ihrem Vortrag deutlich, was mit Corona seinen Anfang nahm und sich seitdem fortsetzt. Extrem unwahrscheinliche Ereignisse mit hohem Krisenpotenzial sind eingetreten. Sie machen sich bemerkbar durch große Mühsal, insbesondere vor dem Hintergrund des ständig wachsenden Personalmangels und der strukturellen Herausforderungen in der Sozialwirtschaft. In einem Rückblick auf die Corona-Pandemie beschrieb Bernshausen anschaulich, wie die Versorgung im Lockdown immer prekärer wurde. In der Eingliederungshilfe beispielsweise schlossen die Werkstätten, alle Klienten blieben in den Wohnheimen. Eine spätere Auswertung der Ergebnisqualität auf der Basis einer Befragung mit 300 Menschen ergab: Während der strengen Einschränkungen in der Pandemie gab es keine besonderen Vorkommnisse. Doch danach, als die Anspannung nachließ, traten vermehrt psychische Probleme bis hin zu Suiziden auf. Es zeigte sich, dass geschlossene Systeme ohne Zugang und Input von außen problematisch sind. Die Menschen in den Einrichtungen benötigen den Austausch und Kontakt.
Was bedeutet dies für Organisationen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft? Pflege, Betreuung und Versorgung sind auf Distanz nicht möglich. Um für die Zukunft gerüstet zu sein, sollte das Krisenmanagement besser vorbereitet werden. „In jeder Organisation sollten praxistaugliche Krisenpläne in der Schublade liegen.“ Nach Einschätzung von Bernshausen wird die Krise lange nachwirken. „Es gibt kein Zurück mehr zum Status quo ante. Denn wir haben es mit parallelen Krisen zu tun: Krieg, Klimawandel und Pandemie machen uns Endlichkeit bewusst.“ Jedoch haben sich gemeinwohlorientierte Unternehmen in der Krise als zukunftssicher erwiesen und Potenziale freigesetzt. So seien beispielsweise gute digitale Formate neu entstanden. Im Hinblick auf digitale Teilhabe sei jedoch noch viel Luft nach oben. Es gelte nun, starke Positionen zugunsten eines wertebasierten und nachhaltigen Sozialstaats zu formulieren. Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Transformation sollten der Sozialwirtschaft erhalten bleiben.
Prämierte Sozialkampagnen
Am Abend präsentierte die Bank für Sozialwirtschaft die Gewinner ihres „Wettbewerbs Sozialkampagne“. Den ersten Preis und damit 10.000 Euro gewann die Hamburger Obdachlosenhilfe StrassenBLUES für ihre innovative und aufmerksamkeitsstarke Spendenkampagne in der Coronazeit. Der zweite Preis (5.000 Euro) ging an den Sozialverband Deutschland (Landesverband Niedersachsen) für die Kampagne „Wie groß ist dein Armutsschatten?“. Mit dem 3. Preis (3.000 Euro) wurde das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND e. V.) für die Kampagne „#WegeBereiten“ ausgezeichnet.
Nach der Krise ist vor der Krise
Der zweite Kongresstag widmete sich dem Umgang mit den vielfältigen Herausforderungen, vor denen die Sozialwirtschaft steht. Die Energiekosten steigen, während parallel dazu alle anderen Herausforderungen weiterlaufen: Fachkräftemangel, Pandemie, Inflation, Klimawandel, Polarisierung und zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft. Die Sozialwirtschaft begreift sich als Teil der Lösung. Vor diesem Hintergrund fragte Dr. Gerhard Timm, Geschäftsführer der BAGFW, am zweiten Kongresstag: „Wie gehen wir mit dieser Gleichzeitigkeit der Krisen um? Ist der Krisenmodus das neue Normal? Und wer übernimmt eigentlich Verantwortung wofür?“ Auf dem Podium diskutierten Sabine Depew, Landesleitung der Caritas Schleswig-Holstein, Michael Groß, Präsident des AWO-Bundesverbandes, und Björn Neßler, Vorstand der Diakonie Gütersloh, über diese Fragen.
Sabine Depew betonte, in der aktuellen Situation sei es wichtig, innezuhalten und nachzudenken. „Wir sollten Verantwortung wahrnehmen, wie wir Gemeinwohlorientierung in Zukunft neu denken und leben wollen.“ Das Krisenmanagement werde zur Normalität, die Arbeit projekthafter. Es werde künftig notwendig sein, unmittelbarer auf Notlagen zu schauen und zu reagieren. In der Krise habe die Digitalisierung einen Schub bekommen. „Doch gut ausgebildete Leute stoßen auf alternde Strukturen.“ Die Arbeitsplätze müssten sich den Arbeitskräften anpassen, nicht umgekehrt, forderte Depew. In den Einrichtungen seien die Leute erschöpft von den Jahren der Pandemie. Jetzt kämen die Sorgen um steigende Kosten noch dazu. Gerade im Bereich der Nachhaltigkeit brauche die Sozialwirtschaft einen Paradigmenwechsel. „Wir müssen Nachhaltigkeit atmen!“ Nachhaltigkeit sei keine Ideologie, sondern müsse wirklich umgesetzt werden. „50 Jahre nach dem ersten Bericht des Club of Rome stehen wir heute noch vor denselben Herausforderungen!“
Michael Groß erklärte, über die Ökonomisierung des Sozialen hätten die sozialen Einrichtungen den Blick auf die Krisenprävention und das Wesentliche verloren. Soziale Arbeit habe die Aufgabe, sich für die Übergangenen und Abgehängten einzusetzen und sie zu ermächtigen, ihr Leben zu leben. In der derzeitigen Situation sei die Verteilungsgerechtigkeit die zentrale Frage. Hierfür gelte es Verantwortung zu übernehmen.
Björn Neßler zeigte sich im Hinblick auf das Krisenmanagement optimistisch. Die Wohlfahrtspflege sei es gewohnt, mit Krisen umzugehen und schnell auf neue Gefährdungen zu reagieren. „Wir sind in der Krise da – wenn Ehen zerbrechen, Kinder und alte Menschen versorgt werden müssen. In der Geschwindigkeit, in der wir reagieren, wird kein Auto gebaut.“
In Windeseile sei es in der Pandemie gelungen, neue Leistungen zu entwickeln. Die Sozialwirtschaft dürfe seiner Meinung nach selbstbewusster auftreten, auch in puncto Nachhaltigkeit. „Wir brauchen nicht über Purpose zu reden, wir haben den Purpose!“ Es sei wichtig, die sozialen Leistungen nicht unter Wert zu verkaufen und sich bei der Auftragsvergabe nicht gegenseitig zu unterbieten. Oft würden Projekte, die sich finanziell nicht lohnen, allein aus Prestigegründen fortgeführt. Dies entwerte die Dienstleistung und sorge für einen Preisverfall, was auch anderen Anbietern schade.
Zum Abschluss der Diskussion ging Dr. Gerhard Timm auf das Positionspapier „Vorrang für Gemeinnützigkeit“ der BAGFW ein. Es hebt den besonderen Mehrwert der Gemeinnützigkeit gegenüber der eher unbestimmten Gemeinwohlorientierung hervor. „Gemeinnützigkeit ist ein Gütesiegel des Staates für gemeinwohlorientiertes Handeln“, so Timm. Die Ökonomisierung habe dazu geführt, dass die Freie Wohlfahrtspflege auseinanderdrifte und die Organisationen sich teilweise untereinander Konkurrenz machten. Doch das gemeinsame Ziel der Freien Wohlfahrtspflege sei es, die soziale Marktwirtschaft zu stärken.
Innovationen ermöglichen
Der Kongress endete mit einem Impulsvortrag von Norbert Kunz, Geschäftsführer von Social Impact, einer Gründungsberatung für Sozialunternehmen, über Verantwortung für soziale Innovationen. Kunz betonte, es gebe eine essenzielle Innovationsbarriere: die Angst vor dem Scheitern. Um wirkliche Innovationen anzustoßen, müsse man die Komfortzone verlassen und Systemgrenzen überwinden. Die Führung müsse bereit sein, Unsicherheiten auszuhalten und Risiken einzugehen. Daneben behindern auch strukturelle Hemmnisse das Entstehen sozialer Innovationen in den Wohlfahrtsverbänden. So fehle es generell an Risikokapital in dem Sektor. Den hohen Kosten der Leistungserbringung stehen Personalmangel und fehlende Qualifikationen der vorhandenen Mitarbeiter gegenüber. Besonders hinderlich sei, dass Preise und Form der Leistungen nicht frei gestaltet, sondern ex post von den Kostenträgern refinanziert würden. So könnten sie niemals die notwendige Anschubfinanzierung erhalten. Doch keine Innovationen anzustoßen sei auch keine Lösung. Um unter den gegebenen Umständen innovativ zu werden, gab Kunz folgende Ratschläge: Impulse von außen nutzen, zum Beispiel durch Universitäten, Unternehmen und Social Start-ups, Kooperationen anstreben und die Gründung eines Fonds für soziale Innovation vorantreiben.
Letzteres ist kurz darauf mit der Auflage des Human Impact Capital Fonds gelungen, an dem die Bank für Sozialwirtschaft als Mitinitiator und Ankerinvestor beteiligt ist. Der Fonds investiert in soziale Dienste in den Kernbereichen Gesundheit, Wohnen und Bildung. „Die Wohlfahrtspflege hat einen zentralen Auftrag zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Da muss sie sich auch selbst zukunftsfähig aufstellen können“, so Kunz.
Bildnachweise: Viktoria Kühne