Anlässlich der Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an Memorial International, die weißrussische Organisation Wjasna, die sich für politische Gefangene einsetzt, und das ukrainische „Center for Civil Liberties“, das Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert, sprach die Sozialus-Redaktion mit Sabine Erdmann-Kutnevic, Vorstandsmitglied von Memorial Deutschland e. V.
»Memorial International erhält den Friedensnobelpreis. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie?«
Wir freuen uns sehr über die Auszeichnung. Der Friedensnobelpreis bedeutet für uns Aufmerksamkeit. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf Russland, Belarus, die Ukraine und die demokratischen Kräfte dort. Alle drei Länder stehen dafür, dass ein demokratischer Wandel erforderlich ist und es dort Kräfte gibt, die diesen vorantreiben. Unsere Hoffnung ist es, Aufmerksamkeit und Unterstützung in der Zukunft zu bekommen, auch für die vielen Geflohenen. Für den Friedensnobelpreis waren wir schon öfter nominiert. Dies hat Hoffnung auf einen gewissen Schutz gebracht. In der Vergangenheit hat man bei anderen Friedensnobelpreisträgern jedoch gesehen, dass das nicht so ist. Im eigenen Land gibt es keinen Schutz.
»Welche Auswirkung hat der Preis für Sie als Verein?«
Der Friedensnobelpreis ändert nicht viel an unserer Zusammenarbeit. Memorial ist schon vorher ein internationales Netzwerk gewesen. Unser zentrales Anliegen ist die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus. Es gibt zum Beispiel eine Aktion, die wir jedes Jahr Ende Oktober gemeinsam in verschiedenen Ländern und Städten durchführen, die „Rückgabe der Namen“. Dies heißt so, weil die Namen der Opfer öffentlich meistens verschwiegen und damit die Erinnerung erschwert wurde. Wenn ein Opfer nicht einmal einen Namen oder ein Grab hat, dann ist das so, als hätte dieser Mensch nicht existiert. Bei der „Rückgabe der Namen“ werden die Namen öffentlich vorgelesen, mit Geburtsdatum, Todesdatum und dem Schicksal des Menschen. Das ist etwas, was uns verbindet. Die Aktion findet auch in Russland statt, da, wo es möglich ist.
»Was bedeutet es, wenn Menschen die Geschichte ihres Landes nicht kennen?«
In Deutschland ist der Nationalsozialismus in ganz vielen Projekten und lokalen Initiativen, Gedenkstätten und Denkmälern präsent. Das ist nach wie vor wichtig, damit sich so etwas nicht wiederholt. Es ist vielleicht nicht ausreichend, aber es ist ein Versuch. In Russland ist das nicht passiert. Memorial hat es versucht, aber unsere Stimmen waren zu schwach. Wir haben es in Russland nicht vermocht, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus wichtig ist und wir sie institutionalisieren müssen, um uns vor einem erneuten Abdriften in eine Diktatur, in Rechtlosigkeit und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Es gibt zwar ein staatliches Museum in Moskau, aber eigentlich ist es ein Manöver der Regierung, um das Gedenken in die eigene Hand zu nehmen. Wer an den Verbrechen beteiligt war, welche Strukturen dies ermöglicht haben, wird verschwiegen. Damit wird sich nicht auseinandergesetzt.
»Ende 2021 wurde der internationale Dachverband von Memorial in Russland verboten. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?«
Immerhin haben wir das Archiv von Memorial gesichert, Dokumente digitalisiert und Exponate sichergestellt. Zunächst bestand die Hoffnung, dass wenigstens das Haus Eigentum von Memorial bleiben kann, doch das hat sich leider zerschlagen. Es wurde jetzt enteignet. Das ist ein Riesenschlag gegen Memorial. Im Grunde genommen kann Memorial in Russland nicht mehr viel machen. Es gibt zwar noch regionale Verbände und Kolleginnen und Kollegen, die dortbleiben wollen, aber ein großer Teil ist inzwischen geflohen und arbeitet im Ausland. Wir müssen jetzt Exilstrukturen aufbauen und versuchen, so viele der ehemaligen Mitarbeitenden zu halten wie möglich. Wenn nicht genug finanzielle Unterstützung da ist, kann es passieren, dass wir sie verlieren, weil sie sich um eine andere Arbeit kümmern müssen. Dieses Netzwerk beisammenzuhalten, um die Arbeit fortzusetzen, ist jetzt gerade die große Aufgabe.
»Im April hat die russische Regierung weitere NGOs geschlossen. Gibt es überhaupt noch eine regierungskritische Zivilgesellschaft in Russland?«
Es gibt in Russland immer noch Menschen, die den Überzeugungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anhängen, die aber im Moment zum Schweigen verurteilt sind, um sich nicht persönlich zu gefährden. Der Zugang zu unabhängigen Medien ist von Russland aus gesperrt. Man muss wissen, wie man diese Sperre umgehen kann, um sich jenseits der Propaganda zu informieren. Das gelingt nur wenigen. Doch die institutionelle Basis für eine kritische Zivilgesellschaft ist zerschlagen. Man kann nur hoffen, dass diese Kräfte wieder zusammenfinden, sich bündeln und einen geschlossenen Block bilden, wenn es irgendwann einmal einen Wandel in Russland gibt. Sie sind da, wir arbeiten zusammen und versuchen, sie zu stärken, so gut wir es können. Aber mehr können wir von Deutschland aus nicht tun.
»Frau Erdmann-Kutnevic, vielen Dank für das Gespräch!«
Bildnachweis: ©MEMORIAL Deutschland/D. Höpfner
MEMORIAL Deutschland e.V.
Memorial Deutschland ist der deutsche Zweig von Memorial International, einer internationalen Menschenrechtsorganisation, die etwa 70 nationale und regionale Organisationen in neun Ländern (Russland, Ukraine, Belarus, Kasachstan, Lettland, Deutschland, Italien, Frankreich und Tschechien) umfasst. Die Gesellschaft entstand während der Perestroika-Zeit als Bürgerrechtsbewegung in der früheren Sowjetunion. Ihr Ziel ist es, die Auswirkungen der Gewaltherrschaft des Stalinismus aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken. Der erste Vorsitzende der Gesellschaft war der Atomphysiker, Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Der deutsche Memorial-Ableger wurde 1993 in Berlin gegründet. Die Mitglieder sind in verschiedenen Städten Deutschlands aktiv.
Spendenkonto:
Bank für Sozialwirtschaft Berlin
IBAN: DE96 1002 0500 0003 3200 00
Sabine Erdmann-Kutnevic
Vorstandsmitglied von Memorial Deutschland e. V.