Vor 100 Jahren, am 7. April 1924, wurde in Berlin die Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands gegründet – der heutige Paritätische Gesamtverband. Seit einem Vierteljahrhundert ist Dr. Ulrich Schneider sein Hauptgeschäftsführer. Im Interview spricht er über Herkunft und Zukunft des Paritätischen, den Klimawandel und warum man keine Angst vor der Zukunft haben sollte.
Herr Dr. Schneider, als der Paritätische 1924 gegründet wurde, gab es ja bereits vier weitere Wohlfahrtsverbände. Warum brauchte es einen Fünften Wohlfahrtsverband?
Schneider: Weil eine ganze Reihe von Einrichtungen sich damals nicht subsumieren konnte unter den bestehenden Verbänden. Es waren unabhängige Einrichtungen, die weder katholisch noch evangelisch noch sozialistisch oder beim Roten Kreuz waren. Sie wollten auch eine Vertretung haben. Und deswegen brauchte es zwingend diesen Fünften Wohlfahrtsverband. Das war auch ein politisches Statement. Damals war die gesamte Diskussion kirchlich geprägt, außerhalb des Staates hatten die Kirchen das Sagen. Die Einrichtungen wollten eine eigene Stimme im gesellschaftspolitischen Diskurs. Und letztlich spielte auch Geld eine Rolle. Es setzten Förderungen staatlicherseits ein, und um diese Einrichtungen zu beteiligen, brauchte man eine Struktur.
Gilt dieser Zweck auch heute noch?
Schneider: Einige Dinge haben sich verändert, aber der Aufbau ist derselbe: Der Verband setzt die Autonomie seiner Mitglieder über alles. Bei uns kann jeder nach seiner Façon leben und soziale Arbeit betreiben. Wir wurden lange Zeit etwas abfällig „Lumpensammler der Wohlfahrtspflege“ genannt, also die, die sozusagen die Reste einsammeln. Das hat sich völlig geändert, weil die Mitgliedsorganisationen eine ganz starke Corporate Identity auf der Basis der Grundwerte Respekt, Vielfalt, Toleranz und Offenheit entwickelt haben. Was damals als gemeinsamer Nenner notwendig war, um überhaupt etwas zusammen machen zu können, ist heute angesichts der politischen Situation – in der rechtsradikale Kräfte wieder ganz dezidiert ein Gesellschaftsbild predigen, bei dem von Vielfalt und Toleranz keine Rede sein kann – wieder zu einem ganz aktuellen, politisch relevanten Statement geworden, um die Demokratie zu verteidigen und rechtsradikalen Kräften Einhalt zu gebieten.
Sie sprachen es an: Rechtsradikalen Kräften Einhalt gebieten, Demokratie verteidigen, gesellschaftliche Spaltung, das ist ein Riesenthema. Aber auch der Klimawandel und der demografische Wandel. Dazu Kriege und Krisen. Was sind für Sie die derzeit größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft?
Schneider: Ich glaube, die größte Herausforderung, weil so basal, ist nach wie vor der Klimawandel. Selbst wenn wir es schaffen, diese Demokratie zu wahren, wovon ich ausgehe. Selbst wenn wir es hinbekommen, eine Gesellschaft zu formen, die vielfältig, tolerant und offen ist und die Würde eines jeden Menschen anerkennt. All das wird nichts nützen, wenn es uns nicht gelingt, die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Denn sollten wir dieses nicht schaffen, verwüsten wir unsere Lebensgrundlage auf diesem Planeten und dann gibt es keine Sieger und Verlierer mehr. Dann gibt es nur noch Verlierer.
Außerdem: Aktuell stecken wir in einem gesellschaftspolitischen Kampf. Es gibt wieder Kräfte, die die Ungleichwertigkeit von Menschen predigen, für die nicht alle Menschen die gleiche Würde und deshalb auch nicht alle Menschen die gleichen Rechte haben. Was seit der Aufklärung an Errungenschaften erreicht wurde, wird hier mit Füßen getreten. Diese Kräfte lehnen alles ab und bekämpfen, was nicht ihrer Leitnorm des gesellschaftlichen Zusammenlebens entspricht. Sei es sexuelle Orientierung, sei es die Art, wie Menschen Familien gründen wollen, sei es Hautfarbe, sei es die Frage, ob jemand behindert ist. Da sehe ich eine riesige Herausforderung. Aber es gibt eine starke Zivilgesellschaft, die dagegenhält. Vor dem Hintergrund, dass wir vom Paritätischen bei den Demonstrationen ganz vorne mit dabei waren und auch dazu aufgerufen haben, bin ich außerordentlich optimistisch, dass wir den Kampf um eine tolerante und offene Gesellschaft gewinnen werden.
Und angesichts des 100-jährigen Jubiläums des Paritätischen und der Masse dieser Herausforderungen: Was sagen Sie Menschen, die Angst vor der Zukunft haben?
Schneider: Man darf keine Angst vor der Zukunft haben. Man muss die Zukunft mitgestalten. Der Paritätische und die Menschen im Paritätischen sind keine Beobachter, die sagen, wie sich die Zukunft entwickeln mag, das macht mir Angst. Die Menschen im Paritätischen überführen ihre Befürchtungen bezüglich einer schlechten Zukunft in produktive Aktivität. Wir gestalten Gesellschaft. Wir starren nicht angstvoll auf Zukunft, sondern wir nehmen sie in die Hand. Das ist das Schöne, wenn man im Paritätischen engagiert ist. Wir bringen uns ein, im Zweifelsfalle auch sehr laut und wahrnehmbar.
Und welche Strategien verfolgt der Paritätische, um den Bedürfnissen der sich wandelnden Gesellschaft gerecht zu werden?
Schneider: Das hat sich sehr geändert, wenn man sich die letzten 30 Jahre anschaut. Es ist etwa 35 Jahre her, dass der Paritätische begann, sich strategisch für die Menschen, die unseren Mitgliedern anvertraut sind, so einzusetzen, dass er politische Forderungen gestellt hat, dass er gesagt hat, wir brauchen andere Rahmenbedingungen. Dann haben. wir angefangen, uns im Bereich Sozialer Arbeit wesentlich professioneller aufzustellen. Dies setzte sich fort in den 1980er-Jahren, mit der ganzen Welle an Sozialmanagement. Als Soziale Arbeit zunehmend unter Druck geriet, mischten wir uns präzise ein in Fragen der Steuer- und Finanzpolitik, weil da die Grundlagen für eine gerechtere Gesellschaft geschaffen werden, in der alle gut leben können. Und der dritte große strategische Schwenk hat dann vor rund zehn Jahren eingesetzt, als wir sagten, wir dürfen als Wohlfahrt nicht mehr allein marschieren. Wir haben gemeinsam mit Gewerkschaften und mit Globalisierungskritikern wie Attac und Campact Bündnisse geschlossen, um uns für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen. Diese Bündnisstruktur hat angesichts des Klimawandels eine besondere Rolle, weil wir uns strategisch um unser Klima kümmern müssen.
Wir werden auch hier in Deutschland von der Klimakrise extrem betroffen sein. Es werden Wanderungsbewegungen auf der Welt einsetzen, die mit sehr vielen Auseinandersetzungen einhergehen. Es werden viel mehr Menschen zu uns kommen. Wir werden künftig keine Sozialpolitik mehr gestalten können, wenn wir nicht den Klimawandel mitdenken. So entstand unser Slogan, den wir mit unserem Partner BUND zusammen geprägt haben: Es geht nur ökosozial. Paritätischer und BUND profitieren von dieser strategischen Partnerschaft, weil wir beide gemeinsam auftreten in einer ökosozialen Klammer. Heute sind wir Partner auf Augenhöhe mit Greenpeace, mit denen wir kürzlich eine Aktion gemacht haben, mit Fridays for Future und anderen. Und das ist auch gut so.
Wenn Sie für Ihre Arbeit die Rahmenbedingungen ändern könnten, was würden Sie da als Erstes tun?
Schneider: Ich würde Geld in die Hand nehmen und eine Steuerpolitik umsetzen, die die öffentliche Hand wieder handlungsfähig macht. Soziale Arbeit spielt sich am Ende immer in den Kommunen ab, da müssen die Angebote geschaffen werden. Wir haben heute eine extreme Spaltung. Einige Kommunen sind sehr gut aufgestellt. Andere, etwa im Ruhrgebiet, stehen mit dem Rücken zur Wand. Dort kann man den Kämmerern nicht mal Vorwürfe machen, wenn sie kürzen, wo sie überhaupt noch kürzen können. Wenn ich mir die Rahmenbedingungen wünschen dürfte, wären das also eine andere Steuer- und Finanzpolitik und ein bundesweiter Strukturausgleich für notleidende Kommunen, sodass sie in die Lage versetzt werden, die sozialen Leistungen vor Ort wirklich zu fördern.
Als Zweites würde ich den absoluten Vorrang für gemeinnützige Angebote in allen Bereichen der Daseinsvorsorge verpflichtend machen. Der Paritätische und ich sind der festen Überzeugung, dass Menschen keine Ware sein dürfen. Wir sind der festen Überzeugung, dass Gewinnorientierung in Sektoren wie Pflege, Bildung, Gesundheit und Soziales nichts verloren hat. Hier hat Gemeinnützigkeit zu herrschen, sprich Verzicht auf private Mitnahme und eine konsequente Orientierung am Gemeinwohl. Es kann nicht sein, dass man wie etwa auf dem Wohnungsmarkt den Markt frei walten lässt und dann zu spät feststellt, dass Wohnungen fehlen, weil es der Markt offensichtlich nicht richtet. Es kann nicht sein, dass im pflegerischen Bereich große Summen an ausländische Investoren abfließen, die hier ihr Geschäft machen mit pflegebedürftigen Menschen. Neben einer 180-Grad-Wende in der Steuer- und Finanzpolitik wäre für mich deswegen zentral, Gemeinnützigkeit und Gemeinwohlorientierung im Bereich der Daseinsvorsorge wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
Jetzt gehört der Paritätische auch seit 100 Jahren den Gesellschaftern der SozialBank an. Aus Ihrer Sicht: Braucht es heute noch so eine Fachbank, und wenn ja, wofür?
Schneider: Die Frage beantwortet sich durch die Faktenlage. Wenn es diese Fachbank nicht bräuchte, dann wäre sie, so hart wie heutzutage das Geschäft ist, nicht mehr da. Also, sie ist noch da, weil sie gebraucht wird. Und wir sind der festen Überzeugung, dass wir die SozialBank auch deshalb brauchen, weil sie zum einen im Bereich Sozialimmobilien ein Know-how hat, das unvergleichlich ist. Man kann wirklich jeder Einrichtung, die in diesem Bereich tätig ist, nur raten, zur SozialBank zu gehen. Die haben, was ihr braucht, die haben das Know-how, die haben Vergleichsmöglichkeiten. Die können euch weiterhelfen in der Frage, wie man seine Arbeit vernünftig aufbauen und dann auch finanzieren kann.
Es ist auch eine Mentalitätsfrage. Zwischen den im Bankensektor tätigen Personen und Sozialarbeiter*innen herrschen gewaltige Unterschiede in der Art, wie man Probleme anpackt und wie man Dinge wahrnimmt. Auch hier hat die SozialBank Know-how entwickelt. Sie kennt unsere Mentalität und die unserer Branche. Sie weiß, wie wir ticken. Sie weiß, was bei uns No-Gos sind. Sie weiß, dass bei uns auch in Finanzfragen eine ethisch-moralische Orientierung gegeben ist. Einen Partner im Bankensektor zu haben, der genau das weiß, dem ich mich nicht immer erst erklären muss, ist ungeheuer viel wert. Und das ist auch der Grund, warum wir wirklich aus tiefster Überzeugung die SozialBank empfehlen; nicht nur, weil wir einer der Stammaktionäre sind.
Im April vor 100 Jahren wurde der Paritätische gegründet. Was haben Sie im Jubiläumsjahr vor?
Schneider: Unsere Jubiläumsaktivitäten reichen bis zu unserer Mitgliederversammlung im Dezember. Es wird sehr viel örtlich stattfinden, auch weil einzelne Paritätische Landesverbände ebenfalls Jubiläen feiern. Im Mittelpunkt steht ein Projekt, in dem wir die Entwicklung des Paritätischen seit den Anfängen in der Weimarer Republik und mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte des Verbandes als einer der sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik nachzeichnen. Darauf sind wir sehr stolz. Der Paritätische musste sich immer so verändern, wie die Gesellschaft sich verändert hat. Als sich die Eltern von Kindern mit Behinderung zusammentaten und etwas für ihre Kinder tun wollten, für die damals überhaupt nichts getan wurde – wo gingen sie hin? Natürlich zum Paritätischen. Als Menschen mit chronischen Erkrankungen sagten, wir wollen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, wir wollen uns selbst helfen, wir wollen uns beraten. Wo gingen sie hin? Zum Paritätischen. Es kamen im nächsten Schritt Fraueninitiativen zu uns, dann Arbeitslosenzentren, dann viele Vereine, die soziale Arbeit mit muslimischem Hintergrund anboten. Bis hin zu vielen queeren Organisationen in den vergangenen Jahren. Der Verband muss sich darauf einstellen und sich fragen, wie können wir ihnen helfen, sich zu organisieren? Was wollen sie von der Politik? Wie sie den Verband jeweils verändert, geprägt und zu dem gemacht haben, was er heute ist, zeichnen wir auf der Website des Paritätischen in Form eines ausführlichen Zeitstrahls, illustriert mit historischem Bild- und Videomaterial, nach.
Wie blicken Sie auf die Zukunft des Paritätischen?
Da bin ich überhaupt nicht bange. Es wird in dieser Gesellschaft immer neue Bewegungen geben von Menschen, die selbstbewusst auftreten und sagen, wir wollen was tun für uns oder für andere. Das werden Menschen sein, mit Sichtweisen und aus Aspekten heraus, die wir uns heutzutage noch gar nicht vorstellen können. Sie werden zu uns kommen, weil wir offen, tolerant und vielfältig sind, und der Verband wird sich weiter verändern und immer kräftiger werden.
Dr. Ulrich Schneider ist seit 1999 Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Zuvor war der promovierte Erziehungswissenschaftler in der Familienhilfe und verschiedenen anderen Positionen beim Paritätischen tätig.