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Das deutsche Pflegesystem ist alles andere als zukunftsfest. Mehr Pflegebedarf, hoher Fachkräftemangel und steigende Kosten halten die Branche im Griff. Einschneidende Innovationen sollen den befürchteten Pflegenotstand abwenden. Nur ist längst nicht alles innovativ, was sich so nennt. Das Etikett ist ebenso beliebt wie beliebig, gilt als überstrapaziert und unscharf. Das aktuelle Magazin ProAlter des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) analysiert den Innovationsbegriff mit dem Schwerpunkt auf sozialen Neuerungen in der Langzeitpflege.
Hermann Brandenburg, Pflegewissenschaftler und Mitherausgeber von ProAlter, legt gleich zum Einstieg den Finger in die Wunde: Tatsächlich sei „Innovation“ ein Containerbegriff, in den alle das reinpackten, was ihnen gerade einfalle. Auf diese Weise gerate das dringliche Anliegen – „eine substanzielle Veränderung zum Besseren“ – in Gefahr. Demgegenüber betont Brandenburg drei Notwendigkeiten:
Am Ende aller Überlegungen müsse ein neues Pflege- und Versorgungskonzept stehen, fordert Brandenburg. „Denn die Langzeitpflege hat viele Potenziale, die aber nicht genutzt werden.“
Geht es um Innovationen in der Pflege, sind meist technische Neuerungen gemeint: Hilfsmittel, die Pflegekräfte und Angehörige entlasten und die Lebensqualität der Pflegebedürftigen verbessern helfen. Zum Beispiel durch digitale Assistenzsysteme und Therapieroboter, führt Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Thomas Boggatz in seinem Beitrag über die „Vielfalt der Innovationsmöglichkeiten in der Langzeitpflege“ aus.
Genau hier gilt es jedoch genau hinzuschauen: Kommt die Neuschöpfung den Beteiligten ungeschmälert zugute, lässt sie mehr Raum für menschliche Zuwendung und Motivation oder fördert sie eher Arbeitsverdichtung und Stress? Innovationen sollten aufmerksam hinterfragt werden, ob sie am Ende nicht nur einer wachstumsorientierten Marktlogik folgen, frei nach dem Motto: „Wir haben eine Lösung und suchen ein Problem“, beschreibt Boggatz das Dilemma. Solche Ansätze verfielen leicht der Eigendynamik von Updates, Folge- und Erweiterungsinvestitionen, losgelöst von der vorgeblichen Verbesserung der Pflegeversorgung.
Technische oder soziale Innovation – es wäre falsch, beide Ansätze gegeneinander auszuspielen. Häufig führt erst deren kombinierte Wechselwirkung zur Verbesserung der Versorgung. So adressiert es auch die Forschungsinitiative „Pflegeinnovation 2030“ der Bundesregierung: „Technische Innovation müssen deshalb auch Hand in Hand gehen mit sozialen Innovationen, also neuen Modellen für die Gesellschaft und Lösungen in Form von Produkten, Dienstleistungen, Handlungsweisen oder Vereinbarungen für unser gemeinsames Leben.“
Soziale Neuerungen setzen an konkreten Bedürfnissen von Betroffenen an, sie wollen aufreibende Routine, Entfremdung und Sinndefizite im Pflegealltag überwinden und setzen auf Veränderungsbereitschaft. „Einfach gesagt geht es um eine Neugestaltung des Miteinanders von Pflegenden und Pflegeempfängern sowie im Versorgungsteam“, erklärt Boggatz. Der Weg dorthin führt über eine meist lernintensive Neustrukturierung von Pflegeprozessen und mehr Teilhabe aller Mitwirkenden. In der vorliegenden ProAlter-Ausgabe beschreiben drei Beiträge herausragende Beispiele sozialer Innovationen.
Landauf, landab lassen sich zahlreiche soziale Innovationsprojekte inspizieren, manche in der Experimentalphase, andere bereits im Regelbetrieb. Der innovative Schwerpunkt besteht im veränderten Miteinander aller Beteiligten oder in der gezielten Ansprache von Zielgruppen wie Demenzkranken, Migranten oder Menschen mit besonderer sexueller Orientierung. Weitere Projekte setzen beim Hierarchieabbau oder bei Veränderungen in der Organisation an. Sie stellten sich zum Beispiel als Kollektiv gleichverantwortlicher und gleichbezahlter Profis (Tagespflege Lossetal) auf, als Pflegegenossenschaft unter Beteiligung bürgerschaftlichen Engagements (Seniorengemeinschaft Riedlingen) oder als Team von eigenverantwortlich agierendem Pflegepersonal und hochschulisch qualifizierten Fachkräften (Caritas Hochrhein).
Es tut sich einiges in der Pflegebranche. Unter dem Schirm einer weitgehend defizitorientierten Pflegediskussion sprießt ein bunter Reigen kreativer Praktiken im Herzen des Pflegealltags. Zusätzlich hat das KDA den „Index Soziale Innovation für das Altern“ entwickelt, der praxisrelevante Kriterien für die Entwicklung und Beurteilung zukunftsweisender Vorhaben nennt. Welche Projekte zukunftstauglich sind, muss sich zeigen. „Vermutlich wird das gleichzeitige Verfolgen mehrerer Ansätze notwendig sein, um Wege aus der derzeitigen Pflegekrise zu finden und in der Langzeitpflege für Pflegekräfte die Arbeit und für Pflegebedürftige den Aufenthalt attraktiv zu machen“, bilanziert Boggatz.
Kuratorium Deutsche Altershilfe (Hg.), (Soziale) Innovationen in der Langzeitpflege, ProAlter, 3/23, Verlag medhochzwei, Seiten 4-27
Zur Initiative „Pflegeinnovation 2030“ und Forschungsprogramm Interaktive Technologie für Gesundheit und Lebensqualität des BMBF:
www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/gesundheit/pflege/pflege-durch-interaktive-technologien-verbessern.html
Auf der Fachtagung „Innovationen in der Langzeitpflege“ am 24.5.2023 an der TH Deggendorf stellten sich neun innovative Einrichtungen mit ihren Projekten vor:
www.vdpb-bayern.de/innovationen-in-der-langzeitpflege-hochkaraetige-fachtagung-geplant/
Bertelsmann Stiftung (Hg.), Potenziale sozialer Innovationen in der ambulanten Langzeitpflege, 2021, 76 Seiten
www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/potenziale-sozialer-innovationen-in-der-ambulanten-langzeitpflege-all
alle abgerufen am 10.11.2023
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