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Kösel Verlag, 18,00 Euro, 208 Seiten
Für Georg Cadeggianini (46) ist der Esstisch das Zentrum des Familienlebens. Ort des größten Glücks, aber auch etlicher Konflikte. Hier wird erzählt, diskutiert, gestritten. Gemeinsam mit Familientherapeutin Christine Ordnung (62) verrät der Redakteur der Süddeutschen Zeitung, weshalb Erziehung beim Essen Pause hat, wie Mahlzeiten entspannt bleiben, warum Tischmanieren nur für Erwachsene gelten sollten. Der siebenfache Vater Georg Cadeggianini wirbt im Gespräch mit unserer Autorin „für ein neues Miteinander, beim Essen und darüber hinaus“: Weil Erfahrungen, die der Mensch beim gemeinsamen Essen macht, ihn ein Leben lang begleiten.
Die beiden Autoren stellen unisono fest, die alte Musterfamilie hat sich aufgelöst. Mittagessen um zwölf, Abendessen um sechs. Die Kinder schweigen, gerade sitzen, Ellbogen vom Tisch. „Wir müssen neue Regeln erarbeiten“, sagen Christine Ordnung und Georg Cadeggianini, denn die Zeit der rollenbedingten Autorität ist vorüber, nach dem Motto: „So redest du nicht mit deinem Vater!“ „Mit vollem Mund spricht man nicht“, „erst aufstehen, wenn alle fertig sind“. Anstelle dieser aus der Zeit gefallenen Benimm-Regeln rückt die persönliche Autorität. Und die wirkt nur, wenn das Innenleben und das äußere Verhalten so weit wie möglich übereinstimmen. Eine unglaubliche Herausforderung, findet Co-Autor Cadeggianini, denn wer ist schon permanent wirklich authentisch.
Der Esstisch ist für Georg Cadeggianini das neue Wohnzimmer. Für den Journalisten und siebenfachen Vater aus München - vier Töchter und drei Söhne, zwischen zehn und 24 Jahren, - sind gemeinsame Mahlzeiten die einzige Gelegenheit, wo alle an einem Tisch zusammenkommen. „Um über den Tag zu sprechen, zu erzählen, zuzuhören, zu lachen, zu streiten oder vielleicht Sorgen loszuwerden. Zusammen zu essen bedeutet einen verlässlichen Rhythmus für den Tag, mehr oder weniger feste Zeiten, sich zu sehen und zu erleben. Der Platz am Tisch wird so zur Schule fürs Leben.“ Die Erwartungen von einem harmonisch-friedlichen Miteinander beim Essen klingen zwar sehr romantisch, sind aber eher utopisch. Georg Cadeggianinis Tipp: Rechnen sie mit Streit. Dass sei eine großartige Chance, sich kennenzulernen.
Christine Ordnung, Mutter einer Tochter, arbeitet seit über 15 Jahren mit Familien und sieht in Konflikten einen Vertrauensbeweis. Die Gründerin und Leiterin des Deutsch-Dänischen Instituts für Familientherapie in Berlin gilt als Schülerin des berühmten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, der vor gut drei Jahren verstorben ist. Genau wie Jesper Juul lehrt Christine Ordnung Erwachsene Verständnis für das Verhalten von Kindern und den Blick aufs große Ganze. Mit Durchblick und viel Humor schafft sie Verständnis für kindliches Verhalten, was so aufklärend wie beruhigend ist.
Essen und Beziehung sind beides Lebensmittel heißt es in „Familie am Tisch“. Bevor es zu Tisch geht, finden es beide Autoren folglich sinnvoll, mit der Partnerin, dem Partner herauszufinden: „Was ist uns beim Essen und auch sonst für unsere Familie wichtig? Die meisten purzeln da ja eher so rein,“ sagt Georg Cadeggianini im Zoom-Gespräch mit unserer Autorin. „Wir sind es gewohnt, als Partner zum Essen zusammenzukommen. Kommt ein Kind dazu, denkt das Paar, dass sich der Tisch automatisch regelt. Da sind wir meist sprachlos und das eskaliert, sobald das erste Kind mit am Tisch sitzt“, so der Journalist.
Der gebürtige Münchner heiratete in eine italienische Familie rein, nahm den Namen seiner Frau Viola an und wurde mit 22 erstmals Vater. „Ich komme aus einer Großfamilie und was unseren Generationen zu eigen ist: Es gibt ganz viel, was tief in einem drinnen ist von Eltern und Großeltern, was nicht reflektiert ist.“ Die Chance sei, sich damit auseinanderzusetzen: „Will ich eine Habacht-Stimmung am Tisch verbreiten, was eine verbreitete Eltern-Macke ist, und darauf achten, dass nur ja nichts runterfällt? Das widerspricht eklatant dem sich angenehm und aufgehoben fühlen“, so Cadeggianini.
Aus eigener Erfahrung weiß der Journalist, dass früher oder später meist doch alles auf dem Esstisch landet, was Familienmitglieder beschäftigt. Folglich gibt es mal fröhlich-harmonische Runden, aber genauso gut mal streitbar-gereizte Stimmung. Gerade am Esstisch zeigt sich für Georg Cadeggianini, was in der Familie los ist. Er plädiert dafür, anstatt Kinder auszufragen, besser miteinander herauszufinden, was gerade wichtig ist.
Brauchen wir heute nicht so etwas wie Tischmanieren? „Auf jeden Fall! Aber nur für Erwachsene“, fordert der Co-Autor vehement: Kein Handy am Tisch. Belehrungen, Zurechtweisungen, Rumerziehen am Tisch sein lassen. „Iss weniger, iss mehr, iss ordentlich, diese endlose Palette von Sprüchen hängen jedem zum Hals raus. Der Mensch braucht Essen zum Überleben und braucht Beziehung zum Überleben und am Familientisch kommt beides zusammen.“
Wirklich Benimmregeln für Eltern? Ein guter Tipp, findet George Cadeggianini: Dinge, die den Tisch betreffen, nicht am Tisch zu besprechen. „Wenn das Kind schmatzt, erst beim Spaziergang oder beim Kochen zu sagen: Du, mir ist das aufgefallen und ich mag das schmatzen nicht.“ Dem Co-Autor geht es nicht um allgemeine Benimmregeln, „sondern wenn ich von mir spreche, kann es der andere besser annehmen und die Beziehung zum Kind wächst“. Letztlich geht es darum, wer ist mein Gegenüber, was machen wir mit dieser gemeinsamen Zeit und genau da findet für Cadeggianini Familie statt.
Oft sind Mahlzeiten der einzige Zeitpunkt am Tag, an dem Familien zusammenkommen. Der Esstisch ist folglich mit Erwartungen überfrachtet. Es soll schön sein, friedlich, harmonisch. „Die Erwartungen sind sehr verschieden: Für Kinder ist beim Essen ideal, es gibt genug Pommes, ich werde nicht angemotzt, wenn ich dreimal Ketchup nehme, will nicht nach Hausaufgaben gefragt werden.“ Fragt man Eltern nach dem idealen Familienessen, taucht ganz oft das Wort friedlich auf. Als geheimer Wunsch ist für Cadeggianini die Erwartung okay, aber sie wird durch jedes kleine Störfeuer torpediert. Weitere große Beschleuniger sind, wenn Kindern gutes Essen nicht wichtig ist. Oder sie mit dem Anspruch auf tiefe Gespräche nicht so viel anfangen können. „Als Eltern sind wir verleitet, sich eine geheime Pause-Taste vom Alltag zu wünschen“, so der Familienvater. „Das Essen ist aber die Fortführung vom Alltag, alle sind unterschiedlich gestimmt und das sorgt für Zoff. Schöner wäre, neugierig auf Zoff zu sein, er kommt ohnehin.“
Ein besonderes Augenmerk hat der siebenfache Vater darauf, was sich ändert, wenn die Großeltern mit am Tisch sitzen. Das ist für Cadeggianini inzwischen eine Generation, „die selten so befreit war, nochmal neu mit ihren Enkeln umgehen zu können“. Das sei eine große Chance, denn starre Formen lösen sich auf, die Großeltern haben Zeit und das kann man am Tisch voll ausspielen. „Die Küche ist zudem ein toller Ort, um Zeit mit Enkeln zu verbringen und etwas voneinander mitzukriegen.“ Das ist für Kinder sehr spannend, wenn die Großeltern erzählen, sie mussten bei Tisch Hefte zwischen Ellbogen und Körper klemmen, so entsteht ein Gespräch über Tischmanieren. „Ich habe es erlebt, da wird mit einer ganz anderen Aufmerksamkeit reingegangen.“
In „Familie am Tisch“ geht es um Prägungen und Glaubenssätze, die jeder an den Familientisch mitbringt, um Hoffnungen und Ängste, um Wunsch und Wirklichkeit. Christine Ordnung fordert gemeinsam mit Co-Autor George Cadeggianini lesenswert und sehr entspannt, zum Beispiel eine Willkommenskultur für Konflikte zu entwickeln: Anstatt zu glauben, wir sind nur gute Eltern, wenn keine Konflikte auf den Tisch kommen, Zoff willkommen heißt, denn der wirkt unter dem Tisch oft viel beschädigender. Die praxisnahen Anregungen bringen Bewegung in den Esstisch, denn es ist alles erlaubt, was guttut, nur kein starres Benimmkorsett.
Weitere Informationen:
www.ndr.de/kultur/Georg-Cadeggianini-wie-geht-mehr-Festtagsehrlichkeit,audio1533818.html
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Susanne Bauer
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