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Bekanntlich suchen viele deutsche Unternehmen derzeit händeringend nach Fachkräften. Trotzdem haben es Menschen mit Behinderung noch immer schwer, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dabei sind Betriebe ab einer jahresdurchschnittlichen Größe von 20 Mitarbeitenden gemäß dem neunten Sozialgesetzbuch (§ 160 SGB IX) verpflichtet, Menschen mit Behinderung einzustellen. Falls sie dem nicht nachkommen, müssen sie eine Ausgleichsabgabe entrichten. Julia Hensen und Philipp Trögeler vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln führen die mangelnde Berücksichtigung insbesondere auf Vorurteile, eine (unbewusste) Diskriminierung sowie eine unzureichende Sensibilisierung zurück. In einer aktuellen Untersuchung zeigen sie, wie verhaltensökonomische Erkenntnisse zu einer erhöhten Erwerbsquote führen können.
Laut Daten von Destatis leben in Deutschland mehr als 10,4 Millionen Menschen mit Behinderung (2021). Rund 7,9 Millionen von ihnen sind anerkannt schwerbehindert (2022). Dabei ist zu berücksichtigen, dass bis zu 90 Prozent der Behinderungen durch Erkrankungen verursacht werden, die im Laufe des Lebens auftreten.
Julia Hensen und Philipp Trögeler beziehen sich in ihrer Publikation auf Zahlen von 2019, wonach 81,5 Prozent der Gesamtbevölkerung erwerbstätig sind. Bei Menschen mit Schwerbehinderung gilt dies lediglich für 56,6 Prozent.
In diesem Zusammenhang erinnern die beiden Forschenden zunächst an die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland 2009 in Kraft getreten ist. In Artikel 1 heißt es: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“
In diesem Sinne hat die Bundesregierung im Juni 2023 das „Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes“ verkündet.
Das „Deutsche Institut für Menschenrechte“ nahm im vergangenen Jahr jedoch den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember zum Anlass, die seiner Meinung nach „halbherzige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland“ zu kritisieren.
Doch welche Gründe sind dafür ausschlaggebend, dass es bei der Inklusion innerhalb des Arbeitsmarktes noch immer hapert? Die Publikation verweist hier zum Beispiel auf eine Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Danach gaben 77 Prozent der Betriebe als Hauptgrund für die Nichtbeschäftigung von schwerbehinderten Personen eine zu geringe Zahl geeigneter Bewerbungen an.
Einer repräsentativen Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft von 2019 haben die Autor*innen weitere Einstellungshürden entnommen. Dazu gehören ein schwer zu durchblickendes Sozialsystem sowie ein mangelnder Zugang zu verständlichen Informationen über mögliche Fördermaßnahmen.
Zudem habe die Verhaltensökonomie auf die Bedeutung kognitiver Verzerrungen aufmerksam gemacht. Diese so genannten „Biases“ können im Rahmen des ganzen Beschäftigungszyklus verhindern, dass Entscheider*innen die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung würdigen.
Oft beginne die Problematik bereits mit der „Anziehung“ (engl. Attraction) von Bewerber*innen, erklären Hensel und Trögeler. Verzichten Unternehmen beispielsweise darauf, in einer Stellenanzeige darauf hinzuweisen, dass der ausgeschriebene Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderungen geeignet ist, können diese abgeschreckt werden. Eine weitere mögliche Reaktion: sie ziehen es vor, ihre Behinderung zu verschweigen.
Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung innerhalb des Rekrutierungsprozesses ist unter anderem auf fehlendes Wissen zurückzuführen. Das könne an einem Übermaß an Informationen liegen, betonen die Forschenden. Da die menschliche Verarbeitungskapazität begrenzt sei, könnten unterschiedliche Optionen dazu führen, dass eine Entscheidung ausbleibe (Choice-Overload).
Neben rein ökonomischen Anreizen, wie beispielsweise die Reduzierung oder Vermeidung einer Ausgleichsabgabe, können sogenannte „Nudges“ (Anstöße) nach Ansicht der Autor*innen dazu beitragen, die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung zu erhöhen.
Beim Nudging geht es darum, Entscheidungen, die auf Gewohnheiten beruhen, positiv zu beeinflussen, und zwar ohne Verbote oder Regeln. Cass Sunstein, ein Rechtswissenschaftler, und Richard Thaler, ein Wirtschaftswissenschaftler, haben diese Methode entwickelt. Nudges verändern zwar das Verhalten, allerdings nicht unbedingt die Einstellungen und Perspektiven von Personen, heißt es dazu bei Hensel und Trögeler.
Eine Möglichkeit des Nudging besteht – so die Publikation – darin, Diversitätsziele zu setzen, etwa indem man Verantwortung auf eine/n Diversitätsmanager*in oder eine Abteilung überträgt.
Feedbacks zur Zielerreichung seien ebenfalls geeignet. „So können Unternehmen konkret evaluieren, welche fehlenden Fähigkeiten, ungenutzten Möglichkeiten und/oder mangelnde Motivation dazu führen, dass die Einstellung von Menschen mit Behinderungen nicht gelingt.“
Hemmnisse im Rahmen von Einstellungsverfahren entstehen offenbar nicht nur aufgrund von Stereotypisierungen. Auch neue Formen der Rekrutierung durch KI könnten Diskriminierungen begünstigen, denen man mit verpflichtenden Bias-Audit-Reports begegnen müsse: „Diese Reports sollen Zusammenfassungen über die Vorhersagen für marginalisierte Gruppen enthalten und eine Vorurteilsfreiheit bestätigen“, lautet eine der Empfehlungen.
Um die Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung dauerhaft zu verbessern, reichen verhaltensökonomischen Ansätzen nach Überzeugung der Autor*innen jedoch nicht aus. Dazu bedürfe es vielmehr umfassender, struktureller Veränderungsprozesse in den Organisationen, die das Erleben von Inklusion zum Wohle aller Beteiligten ermöglichen.
Hensen, Julia/Trögeler, Philipp: Inklusion am Arbeitsplatz stärken. Wie und warum verhaltensökonomische Erkenntnisse helfen, Menschen mit Behinderungen bei Einstellungen seltener zu diskriminieren – zum Wohle aller, IW-Report 49/2023, Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. (Hrsg.), Oktober 2023. Download
Weiterführende Informationen
www.behindertenbeauftragter.de/DE/AS/rechtliches/un-brk/un-brk-node.html
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