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Deutschland wird immer älter, ist mittendrin im demografischen Wandel. Die Bevölkerungsentwicklung in Größe, Altersstruktur und migrationsbedingter Zusammensetzung wird Deutschland in allen Lebensbereichen tiefgreifend verändern. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich sehr auf übergreifende Aspekte wie Wirtschaft, Finanzen und Rente, während die Handlungsnotwendigkeiten für die einzelne Bürgerin, den einzelnen Bürger zu kurz kommen, argumentiert ein Impulspapier der Bertelsmann-Stiftung.
Autorin Ulrike Wieland greift in ihrem Überblicksbericht zentrale Aspekte des demografischen Wandels heraus und weist auf anstehende Implikationen für den Einzelnen hin. Gleich voran steht die Frage des Renteneintrittsalters. Die Jahre 1955 bis 1969 sind die geburtenstärksten in der Geschichte der Bundesrepublik, seit 1972 übersteigt die Zahl der Menschen, die jährlich sterben, die der Geburten. Jetzt sind die Babyboomer auf dem Weg in den Ruhestand, bis 2035 sinkt die Zahl der Arbeitskräfte um rund zweieinhalb Millionen Menschen.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium warnte jüngst vor „schockartig steigenden Finanzierungsproblemen in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025“, wissenschaftliche Empfehlungen zur Anhebung des Renteneintrittsalters reichen von 68 bis 74 Jahre, um den Beitragsanstieg zu bremsen und das Rentensicherungsniveau zu stabilisieren. „Somit steht die Aussicht, regulär über das 67. Lebensjahr hinaus erwerbstätig sein zu müssen, als realistisches Szenario und wahrscheinliche Folge des demografischen Wandels für die (noch jüngeren) Menschen im Raum“, prognostizierte das vorliegende Impulspapier.
Dank gestiegener Lebenserwartung rückt die Erwerbstätigkeit im Rentenalter in den Blickpunkt. Zwischen 2009 und 2019 hat sich die Zahl erwerbstätiger Ruheständler*innen von vier auf acht Prozent verdoppelt. Bei mehr als einem Drittel (38 %) diente die Arbeit der Sicherung des Lebensunterhalts, für mehr als die Hälfte war sie eher ein Zuverdienst. Angesichts der Unsicherheit bezüglich des künftigen Rentenniveaus könnte der Anteil der Menschen steigen, die im Alter arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, führt Autorin Wieland aus. Folglich werde für den Einzelnen die zusätzliche Altersvorsorge immer wichtiger.
Seit 1950 ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei Frauen und Männern um rund 15 Jahre auf heute 83,4 bzw. 78,6 Jahre gestiegen, Wissenschaftler sagen einen weiteren Anstieg auf 88 bzw. 84 Jahre (2060) voraus. Nur was tun mit der gewonnen Zeit? Die „Third Ager“, die Generation 60plus, ist gesünder und in Beruf und Freizeit aktiver denn je. Zwei von drei der 50- bis 75-Jährigen können sich vorstellen, auch im Rentenalter einer Arbeit nachzugehen. Vorausgesetzt, sie macht Spaß, stiftet Sinn und erlaubt eine individuelle Planung. Auch das gesellschaftliche Engagement steht bei dieser Altersgruppe hoch im Kurs (73 %). Fraglich ist jedoch, inwieweit die Bereitschaft zum freiwilligen Engagement mit der Notwendigkeit fortgesetzter Erwerbstätigkeit in Einklang zu bringen ist, erörtert die Autorin.
Niedrige Geburtenraten und erhöhte Mobilität machen die soziale Einbindung und Unterstützung durch Familienangehörige im Alter zunehmend unsicher. So hat sich die Wohnentfernung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern im Zeitverlauf stetig vergrößert – 2014 wohnten die Kinder nur noch bei einem Viertel der Eltern (25,8 %) in der Nachbarschaft oder im selben Ort. Daraus erwächst die Notwendigkeit, nicht nur finanziell, sondern auch sozial fürs Alter vorzusorgen – durch Bildung und Pflege nichtfamiliärer sozialer Netze zusammen mit Nachbarn, Freunden und Bekannten.
Die Zahl der über 80-Jährigen steigt bis 2050 von heute knapp sechs auf über neun Millionen an, die Zahl der Pflegebedürftigen von vier auf sechs Millionen. Bis 2030 werden rund 130.000 Langzeit-Pflegekräfte zusätzlich gebraucht, darüber hinaus dürfte das Potenzial der Pflege durch nahe Angehörige künftig zurückgehen. Das Problem: Angehörigenpflege gefährdet die Altersvorsorge, ohne dass die eigene Pflege im Alter sichergestellt ist. „Für das Individuum ergibt sich in jedem Fall die Notwendigkeit, sich bewusst und möglichst frühzeitig mit dem Thema Pflege auseinanderzusetzen“, rät das Impulspapier. In die Entscheidungsfindung sind etwa Beratungsstellen vor Ort und lokale Pflegestützpunkte einzubeziehen.
„Beim einzelnen Bürger, der einzelnen Bürgerin laufen die verschiedenen ,Fäden‘ der demografischen Entwicklung zusammen“, heißt es in der Expertise. „Der einzelne Mensch bekommt die Auswirkungen des demografischen Wandels in all ihren Facetten zu spüren.“ Man könnte hinzufügen: Und in all ihren Zumutungen. Längere Lebensarbeitszeit, familiäre Pflegetätigkeit und Sicherung des Rentenniveaus, im Alter dann die Gestaltung sinngebender Aktivitäten außerhalb familiärer Bezüge sowie die Frage der Finanzierbarkeit angemessener Pflege – die Herausforderungen des demografischen Wandels sind vielfältig, konkret und drängend. Die Autorin bleibt vage, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten, nur soviel: Zum einen sollten persönliche Fähigkeiten und Einstellungen erforscht werden, die bei der individuellen Bewältigung der Risiken des demografischen Wandels hilfreich sind, zum anderen sind Politik und Wirtschaft gehalten, etwa mit praxisnahen Vereinbarkeitslösungen unterstützende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Ulrike Wieland, Impuls zum demografischen Wandel #11, Welche Folgen hat der demografische Wandel für den Einzelnen? Hg.: Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2021, 5 Seiten
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