Suche
Böhlau Verlag Wien, 2021, 221 Seiten, 32 Euro
Sie sind eigentlich Architekten: Doch Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter aus Österreich beschäftigen sich außerdem seit knapp 20 Jahren als Performance-Duo mit dem Essen. Zuletzt mit dem Design industriell hergestellter Lebensmittel und mit Essgewohnheiten, aktuell mit Tischmanieren, der Tischkultur und mit Tischsitten. Der Fotoband ist so unterhaltsam wie erhellend.
Beim Essen umgeben wir uns mit besonderem Geschirr, Tisch und Stuhl geben die Körperhaltung während der Mahlzeit vor. Seit nicht mehr alle aus einer Schüssel essen, sondern auch mal Stäbchen oder Hummerzangen bedienen müssen, sind Tischsitten außerdem politisch geworden. Im Skype-Interview erläutert Martin Hablesreiter unserer Autorin Maicke Mackerodt, weshalb er die aktuelle Esskultur für nicht mehr zeitgemäß hält.
Warum löffeln wir Suppe und trinken sie nicht? Weshalb haben sich beim Essen bestimmte Möbel durchgesetzt? Essen ist viel mehr als nur Nahrungsaufnahme – „Essen ist Kultur, diese Kultur ist aber sehr wenig erforscht“, sagt Martin Hablesreiter im Interview mit unserer Autorin: „Es gibt fast gar nichts darüber, wie sich unsere Tischkultur entwickelt hat, warum wir aufrecht am Tisch sitzen, weshalb wir mit Messer, Gabel und Löffel essen und vor allem: Seit wann?“
Als Künstler-Duo belegt das Wiener Architekten-Paar die identitätsstiftende Bedeutung des Essens. In „wie wir essen“ beschreiben sie, wie sich unsere Tischkultur historisch entwickelt hat. Warum wir mit Esswerkzeugen wie Messer und Gabel essen, stundenlang auf harten Stühlen an wenig komfortablen Esstischen sitzen, uns für ein feines Abendessen in unbequeme Kleidung zwängen – und sie beschreiben die Geschichte der Restaurants. Sie erzählen, dass die Art unserer Nahrungsaufnahme kein Zufall ist, sondern Folge kultureller Regeln, die spannende Vorgeschichten haben.
Apropos Eleganz: Bei uns ist es ja durchaus üblich, sich für ein feines Essen auch elegant zu kleiden – in anderen Ländern ist das anders, erzählt Martin Hablesreiter: „In Japan zum Beispiel gibt es die Tradition, dass man ein schönes Abendessen auch in einem sehr bequemen Yukata, so einer Art Kimono, der ein bisschen wie ein Bademantel ist, einnehmen darf, die alten Römer haben das auch gemacht.“
Illustriert ist der bemerkenswerte Fotoband mit 180 teils sehr skurrilen Aufnahmen, auf denen die oft unlogischen, aber seit Jahrhunderten üblichen Ess-Gepflogenheiten ad absurdum geführt werden: Sie trinken Kaffee in Abendgarderobe hoch oben in einem Baum, nehmen eine Jause elegant gekleidet mitten in der Donau oder sitzen in Badeklamotten im Wirtshaus. Martin Hablesreiter liebt das Bild, auf dem seine Frau den Gugelhupf mit der Kreissäge schneidet. „Wir saßen im teuersten, besten Kaffeehaus in Wien, es war Vollbetrieb, die Gäste haben mit uns gescherzt. Dann kamen Amerikaner rein und fragten: Ist der Kuchen wirklich so hart?, und das entschärfte die Situation.“
Zwei Jahre beschäftigten sich Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter, seit 2003 bekannt als das Künstlerduo Honey und Bunny, damit wie wir essen – und stellten fest: Unsere Esskultur ist nicht mehr zeitgemäß. „Nicht nur, weil Besteck, Teller und Gläser rigoros festlegen, mit welchen Handgriffen wir vorbildlich essen. Auch nicht, weil wir Porzellantassen üblicherweise nicht zum Wassertrinken verwenden, Gabeln nicht zum Kämmen benutzen. Sondern indem versucht wird, sich beispielsweise mit vermeintlich guten Manieren nach unten abzugrenzen, folglich käme uns unter dem Tisch essend zu sitzen gar nicht in den Sinn. Wir haben das Essen nach einem strengen System von Konventionen und Regeln eingeschränkt und ritualisiert“, so die Autoren.
So viel Aufhebens um etwas, das nur 17 Prozent aller Menschen weltweit verwenden – die meisten essen mit Stäbchen oder mit der Hand. Weshalb hält eine moderne Gesellschaft an solchen Ritualen fest? „Die Menschen versuchen, sich nach oben zu arbeiten, indem sie scheinbar guten Geschmack und gute Manieren beweisen“, so Martin Hablesreiter. „Das Gedeck verkörpert ein Revier, in das niemand ungefragt eindringen darf. Es gibt Manager, die mit Bewerbern teuer essen gehen – wenn der nicht weiß, wie er eine Hummerzange bedienen kann oder welcher Wein der passende ist, kriegt er den Job nicht. Es ist zum Lachen: Wir leben in einer Demokratie, glauben aber, uns benehmen zu müssen wie die verstorbene Königin von England.“
Was genau ist aktuell mit Tischsitten gemeint? Stillsitzen, Ellbogen nicht aufstützen, kein Handy während des Essens benutzen. Oder nicht mit den Fingern essen, Hände vorher waschen, nicht mit vollem Mund sprechen und schon gar nicht die Suppe schlürfen. Das alles lernen bereits Kinder schon früh - dazu kommt später der Gebrauch einer Damastserviette, der Umgang mit dem Fischbesteck, das richtige Glas - es gibt so viele Regeln, wer sie nicht beherrscht, wird mitunter schräg angeschaut.
„Mit seinen Benimm-Regeln wollte Moritz Freiherr von Knigge eigentlich eine hierarchielose Gesellschaft. Das funktionierte nur nicht, die kleinen Merkmale schaffen eben große soziale Unterschiede: Ellbogen auf den Tisch ist für viele ein No-Go, meine Kinder quäle ich nicht damit.“ Und wieso messen wir Tischmanieren überhaupt so viel Bedeutung zu? „Wenn wir unseren Kindern mühevoll das perfekte Handling von Messer und Gabel beibringen, so liefern wir ihnen die Grundprinzipien unserer Gesellschaftsordnung gleich mit“, schreiben die Autoren. „Der scheinbar intime Moment des Essens folgt in Wahrheit strikt vorgegebenen Verhaltensmustern.“
„Das ist ein Scherbenhaufen, vor dem wir stehen“, beobachtet Martin Hablesreiter, der täglich frisch für die Familie kocht. „Ich ordne mich der Generation Ikea-Drugs-und-Rock’n’Roll zu. Wir haben kulturellen Ballast abgeworfen, als wir von zu Hause ausgezogen sind. Dazu gehören auch Tischsitten oder teures Geschirr und edle Gläser.“ Kenntnisreich beschreiben die Autoren, dass Besteck früher, neben Hut und Gürtel, Teil der Kleidung und – ähnlich wie heute das Handy – ein ständiger Begleiter war. Erst im Barock gab es Esswerkzeuge als auf den Tafeln liegendes Tischgerät. Wertvolle Besteckausstattungen dienten repräsentativen Zwecken, ganze Vermögen verschwanden im viel zitierten Familiensilber. Heute sind es nahezu billige Wegwerfartikel geworden.
„Wir drücken uns aus wie wir essen, nicht nur was.“ Für Martin Hablesreiter gibt es dabei viele versteckte Elemente: Beispielsweise sei das Patriarchat bei Tisch immer noch sehr machtvoll. Der Vater, der Chef, der Mann habe oft einen Ehrenplatz am Tisch und an Hand der Sitzordnung ist zu erkennen, wer was bei Tisch zu sagen hat. Beim Essen herrschen für die Autoren noch veraltete Rollenbilder vor, die sie mit ihren skurrilen Fotos sehr böse vorführen. Gedeckte Tafeln hält das Architektenpaar für romantisch völlig verklärt und selbst Sitzordnungen für zutiefst undemokratisch. Nicht zuletzt, weil es am Ende immer die Frauen sind, die aufspringen und abräumen. „Wenn Frauen mit kochen beschäftigt sind und die ganze Zeit hin und her rennen, will man sie nicht dabeihaben.“ Da steckt eine Menge Politik drin, dazu gehört sicher auch, wenn man zum Essen goldene Löffel und Designer-Porzellan auslegt, teuren Wein bestellt und für alle im Restaurant bezahlt. „Das finde ich ärgerlich. Eigentlich sollte man sich darüber hinwegsetzen, Kultur ist verhandelbar und veränderbar“, so Martin Hablesreiter
Das letzte Kapitel in „wie wir essen“ ist interessanterweise dem Klima gewidmet. Beim Essen kommt viel Energie, Wasser und Chemie zum Einsatz, schreiben die Autoren. „Je mehr Gänge, je mehr Geschirr desto besser, das widerspricht eigentlich dem Nachhaltigkeitsgedanken. Ein Effizienzgedanke im Sinne der Ressourcen wäre: Esse ich nur mit einem Teller, brauche ich auch nur einen anschaffen, herstellen, abwaschen. Muss man jeden neuen Wein aus einem anderen Glas trinken. Oder Frühstücksbüfetts in Hotels sind wenig ökologisch, der Foodwaste-Anteil liegt bei weit über 40 Prozent, allein weil jeder Gast vier komplette Gedeckgarnituren benötigt.“
Glauben Sie wirklich, veränderte Tischsitten können die Welt verändern? „Absolut! Vegetarische Speisen könnten durch das Design des Geschirrs aufgewertet werden, anstatt Gemüse kommt das Fleisch auf den Beilagenteller“, so Martin Hablesreiter. „Wie wir essen hat großen Einfluss auf den Klimawandel. Es geht darum, nicht nur unser Essen, sondern auch unsere Esskultur nachhaltig zu machen. Alles Wegwerfen von Lebensmitteln müsste besteuert werden. Das müssen wir gegenüber der Politik formulieren, anstatt Fleisch-Verzichtsrhetorik, das funktioniert nicht. Als Künstler schaffen wir mit unseren Fotos und Performances positive Narrative – und bitten zu Tisch.“
„Wie wir essen“, das klingt banal-alltäglich. Dahinter verbirgt sich ein Kosmos aus Ritualen und Regeln, die meist unhinterfragt übernommen werden. Der unkonventionelle Fotoband beleuchtet von den Esswerkzeugen und dem Geschirr über die typischen Speisemöbel und die Kleidungsvorschriften die Nahrungsaufnahme in allen Facetten.
Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter studierten an der Wiener Universität für Angewandte Kunst, in Barcelona und London Architektur und Design und gelten als Mitbegründer der Food-Design-Szene. Sonja Stummer arbeitete zudem in Tokyo als Projektarchitektin beim Pritzker-Preisträger Arata Isozakis.
Vor allem die Fotos von Ulrike Köb und Daisuke Akita zeigen die Food-Designer in opulent inszenierten, schrägen Ess-Situationen. Gemeinsam mit einer Fülle an kulturhistorischen Informationen ist die überraschende Erkenntnis, wie kulturell gestaltet, wie politisch und wie zutiefst undemokratisch so etwas Sinnliches wie wir essen sein kann.
Sozialmarketing
Erster Preis beim 12. BFS-Wettbewerb Sozialkampagne: Gesucht und gefunden – eine gute Geschichte, die inspiriert
Pflege
Pflege-Image bei der Berufswahl: Was werden wohl die Leute sagen?
Arbeitswelt
Workaholics haben wieder Konjunktur: Von Lust, die Leiden schafft
Pflege
Häusliche Intensivversorgung: „Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stärken!“
Gesundheitswirtschaft
Krankenhaus Rating Report 2022: Schrumpfende Luftfahrt, weniger Betten
Buchempfehlung
Sonja Stummerer & Martin Hablesreiter: wie wir essen. Tischkultur. Geschichte, Design und Klima
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail