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Sozialwirtschaft und digitale Transformation, das Thema reichte noch vor einigen Jahren nur zur Kurzgeschichte – es gab dazu schlicht wenig Bahnbrechendes zu vermelden. Inzwischen hat die Branche merklich zugelegt. Vor allem die Coronazeit hat einen regelrechten Digitalschub ausgelöst. Selbstzufriedenheit wäre dennoch fehl am Platz, warnt der neueste IT-Report für die Sozialwirtschaft 2023 der Universität Eichstätt. Großen Nachholbedarf mit hohem Wertschöpfungspotenzial gibt es demnach bei der Optimierung digitaler Geschäftsabläufe, konstatiert Sozialinformatiker und Co-Autor Helmut Kreidenweis.
Die Studie will der Branche Orientierung geben, will Erreichtes und Defizite aufzeigen – auch im Abgleich mit anderen Branchen und künftigen Herausforderungen. Sozialeinrichtungen sollen Entscheidungshilfen auf dem Digitalisierungspfad erhalten, Softwareanbieter wertvolle Hinweise auf Markterfordernisse ableiten können. Der IT-Report des vergangenen Jahres belegte die hohe Innovationsbereitschaft vieler Einrichtungen, die angesichts von Corona vor allem in Mobilgeräte, Home-Office-Lösungen und flexible IT-Anwendungen investiert hatten. Der Report 2023 erweitert den Blick von der Quantität zur Qualität: Er verlegt die Analyse von der Oberfläche verbesserter mobiler Kommunikation in die Tiefenstruktur digitaler Geschäftsabläufe.
Erklärte Messlatte ist der Reifegrad fachlicher und administrativer Geschäftsprozesse sowie der Einsatz geeigneter Branchensoftware. Abzulesen daran, in welchem Umfang interne Abläufe standardisiert angelegt sind und kontinuierlich eingehalten werden. Sichtbar wird das der Studie zufolge in den drei Kategorien Klientenverwaltung und Leistungsabrechnung, Planung und Dokumentation sowie Dienst- und Einsatzplanung. In diesen zentralen Funktionsbereichen entscheide sich, „wie ressourcenschonend, medienbruchfrei und fehlerarm wichtige Prozesse in den Organisationen gestaltbar oder gestaltet sind“, arbeitet der Report heraus.
Die vorliegenden Ergebnisse beruhen auf Befragungen von Fach- und Führungspersonal sozialer Organisationen und von Anbietern von Branchensoftware. Bei den teilgenommenen Einrichtungen führt die ambulante, stationäre und teilstationäre Altenhilfe zusammen das Feld an, gefolgt von der Behinderten- sowie der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Die gemeldete Summe der IT-Aufwendungen betrug 2022 knapp 250 Millionen Euro. Hochgerechnet auf die gesamte Sozialwirtschaft kommt die Studie auf knapp 1,5 Milliarden Euro für IT-Investitionen. „Eine Einkaufsmacht also, bei der sich schon die Frage aufdrängt, ob sie von den Trägern und vor allem ihren Verbänden nicht besser genutzt werden könnte.“
Mochten Optimisten nach dem Digitalboom der Coronajahre auf einen weiteren Aufwärtstrend der IT-Investitionen gehofft haben, sorgt die tatsächliche Entwicklung eher für Ernüchterung, beschreibt der Report: „Der Standardisierungsgrad von Prozessen hat in allen drei von uns untersuchten Kategorien nicht merklich zugenommen. Gleiches gilt für die Prozess-Compliance, also die Einhaltung der definierten Prozesse durch die Mitarbeitenden.“ Dieser Befund wird durch das Urteil der befragten Fach- und Führungskräfte bestätigt, wonach sie die Qualität einer Software weit mehr an ihrer Nutzerfreundlichkeit und Programmstabilität messen als an Vorzügen der Prozessabbildung geschäftlicher Abläufe. Auch die Software-Fachanbieter kommen nicht gut weg: Ihre Lösungen werden den Anforderungen der Praxis in puncto Prozessabbildung und Nutzerfreundlichkeit immer noch in erheblichem Maße nicht gerecht, besagt die Studie.
Damit ist klar: In der deutschen Sozialwirtschaft wird immer noch reichlich getippt, gedruckt und gefaxt, gibt es unnötige Medienbrüche im Austausch mit Leistungsträgern und Behörden. „Und das sind genau die Zeitfresser, die die Fachkräfte von ihren eigentliche Aufgaben abhalten, davon, sich um die Menschen zu kümmern und nicht vor dem Rechner zu sitzen“, beklagt Kreidenweis ein einem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Neben dem wenig schmeichelhaften Bild vom Stand der Digitalisierung in der Branche nennt die Studie auch positive Entwicklungen. Zum Beispiel die von den Befragten geäußerte Zunahme von Digitalkompetenzen in den Organisationen. „Es geht also voran mit der Digitalisierung der Sozialwirtschaft, mal in kleinen, mal in größeren Schritten. Und manchmal herrscht auch Stagnation. Besonders wenn es ans ,Eingemachte‘ geht, also die alt-eingeschliffenen Gewohnheiten und Prozesse.“
Eine gemischte Bilanz, welche die Frage aufwirft, woran es bei der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft denn nun genau hakt. Dezidierte Hinweise liefert Kreidenweis in seinem Fachartikel „Sozialwirtschaft im Handbetrieb“:
Fazit des Autors: Die ersten drei Faktoren lägen komplett in der Hand der Träger, müssten also auch dort angepackt werden. Der vierte Faktor könne nur mittels langfristig konsequenter politische Lobbyarbeit angegangen werden – eine Aufgabe, welche von den Verbänden der Wohlfahrtspflege verstärkt wahrgenommen werden solle. Bislang müssten digitale Investitionen aus den laufenden Erlösen finanziert werden, gefragt sei jedoch eine politische Zusage zur Regelfinanzierung für solche zukunftsweisenden Vorhaben.
Kreidenweis, Helmut / Wolff, Dietmar, IT-Report für die Sozialwirtschaft 2023. Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Arbeitsstelle für Sozialinformatik, 71 Seiten, 2023
Download (Muster und Bezugsadresse)
* Interview mit Helmut Kreidenweis im Deutschlandfunk vom 22.07.2023, Forschung aktuell
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