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Telefongespräche statt persönlicher Begegnung, Winken am Fenster statt tröstender Umarmung: Kontaktsperre und eingeschränkte Bewegungsfreiheit während der Pandemie zwangen die Bewohner*innen von Pflegeheimen in ein Leben im Ausnahmezustand. Mit dramatischen Auswirkungen, bilanziert der Pflege-Report 2021 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Alleine die Übersterblichkeit lag zweitweise bei 80 Prozent. Daraus müssten Lehren gezogen werden, fordert die Studie.
Der Report arbeitet schonungslos auf, wie schlecht der Infektionsschutz von vollstationär Pflegebedürftigen in den großen Wellen der Corona-Pandemie funktionierte. Im Fokus stehen außerdem die massiven physischen und psychischen Beeinträchtigungen der alten Menschen. Die Auswertung stützt sich auf Abrechnungsdaten der AOK-Pflege- und Krankenkassen und auf eine Angehörigenbefragung. Die Untersuchung erscheint im Forschungsprojekt „Covid-Heim“, das vom GKV-Spitzenverband gefördert und von der Charité-Universitätsmedizin Berlin zusammen mit dem WIdO durchgeführt wird.
Die Sterblichkeit der Heimbewohner*innen im ersten Pandemiejahr lag deutlich höher als im Mittel der Vorjahre 2015 bis 2019 trotz ihrer zum Teil ausgeprägten Grippewellen: drei Wochen nach Start des ersten Lockdowns (6. bis 12. April) um 20 Prozent, in der zweiten Pandemiewelle von Oktober bis Dezember um 30 Prozent, Ende Dezember um 81 Prozent. Im Zeitraum von April bis Juni entfielen auf die über 60-jährigen Heimbewohner*innen ein Drittel aller Covid-19-Diagnosen. Niederschmetternd ist auch der Vergleich mit den über 60-jährigen Krankenhauspatienten, die zwischen April und Juni mit Covid-19-Diagnose verstarben: Deren Anteil betrug bei Pflegebedürftigen 45 Prozent, bei den Älteren, die nicht oder ambulant behandelt wurden, lag der Anteil nur bei 25 Prozent.
43 Prozent dieser Bezugspersonen konnten während der ersten Welle zwischen März und Mai 2020 keinen direkten Kontakt mit den ihnen vertrauten Heimbewohner*innen pflegen, 30 Prozent nur selten. Für einen hohen Anteil der befragten Angehörigen (88 %) bestand keine Möglichkeit der Kontaktpflege per Tablet. Außerdem konnte mehr als ein Drittel (36 %) der Pflegebedürftigen das eigene Zimmer nicht verlassen, einem Viertel (25 %) war das nur selten möglich.
Die Angehörigen bemerkten auffallende Verschlechterungen der körperlichen, geistigen und psychischen Fitness der Heimbewohner*innen. Mehr als zwei Drittel berichteten über gehäufte Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein (71 %), von Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit (68 %). Die geistige Fitness nahm bei 61 Prozent der betagten Menschen ab, die Beweglichkeit beim Gehen, Aufstehen oder Treppensteigen bei 56 Prozent. „Insgesamt zeigt sich vor dem Hintergrund der ergriffenen scharfen Isolationsmaßnahmen (…) ein besonders dramatisches Bild der physischen und psychischen Folgen: Für die vollstationär Pflegebedürftigen führten die Maßnahmen ausnahmslos in allen erfassten Kategorien häufiger zu einer Verschlechterung, als dies für den ambulanten Kontext berichtet wird“, führt die Studie aus. Zwar handelt es sich bei diesen Angaben um Fremdeinschätzungen durch Personen, die zum Teil auch vor der Pandemie nur einmal wöchentlich Kontakte zu den Pflegebedürftigen hatten, allerdings decken sich die Ergebnisse in der Tendenz mit anderen Untersuchungen.
Nach Angaben der Angehörigen fielen bei etwas mehr als jeder fünften pflegebedürftigen Person (23 %) alle bereits vereinbarten Termine mit dem Hausarzt oder der Hausärztin aus, bei weiteren 43 Prozent fanden Termine nur teilweise statt. Bei lediglich einem Viertel der Heimbewohner*innen (27 %) kam es zur Wahrnehmung aller vereinbarten fachärztlichen Termine. Von verschlechterten Möglichkeiten, Rezepte und andere Bescheinigungen durch den Hausarzt bzw. die Hausärztin zu erhalten, berichteten zehn Prozent der Angehörigen.
Es entbehrt nicht der Tragik: Maßnahmen, welche besonders verletzliche Menschen schützen sollten, gingen mit hoher Sterblichkeit und einer erheblichen Verschlechterung der Lebensqualität einher. „Was auf keinen Fall noch einmal zur Gefährdungsvermeidung herangezogen werden darf, ist die generelle Isolierung alter Frauen und Männer von der Außenwelt und von ihren Angehörigen“, sagen die Studienautor*innen. Es müsse nun detailliert untersucht werden, „welche technischen, baulichen, rechtlichen und personellen Veränderungen und Ressourcen benötigt werden, um zu vermeiden, dass sich eine solche Situation wiederholt.“
Die Pandemie habe die Schwächen des deutschen Pflegesystems einmal mehr aufgedeckt. „Die Personaldecke in der Pflege ist viel zu dünn, die Qualifikation des Personals ist angesichts der Krankheitslage nicht mehr adäquat, die Patientensicherheitskonzepte sind unzureichend und die fachärztliche Betreuung ist für die meisten Fachgruppen unterproportional“, fassen die Autor*innen den Report zusammen. Ein Problem seien auch sehr große Heime mit teilweise mehreren hundert Pflegebedürftigen auf engem Raum: „Wir brauchen eine Versorgung in den Heimen, die es nie wieder zulässt, dass die Angehörigen draußen vor der Tür bleiben müssen, dass Menschen in den Heimen sterben, ohne dass ihre Familien sie begleiten können."
Der Pflege-Report 2021 hat das Schwerpunktthema „Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen“. Neben der dargestellten Auswertung widmet sich der Band der medizinethischen Einordnung der Covid-19-Maßnahmen für Pflegebedürftige, der Belastung von Pflegebedürftigen und berufstätigen Angehörigen und dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement unter Pandemiebedingungen. Der zweite Teil der Publikation geht u. a. auf die notwendige Reform, neue Bedarfslagen und Entwicklungspotenziale ein.
Klaus Jacobs / Adelheid Kuhlmey / Stefan Greß / Jürgen Klauber / Antje Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2021. Schwerpunkt: Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen. Springer (Heidelberg); 292 Seiten, 100 Abb. in Farbe, ISBN: 978-3-662-63106-5
Darin insbesondere die Studien:
Covid-19-Betroffenheit in der vollstationären Langzeitpflege, Seiten 3-20
Pflegerische Versorgung in der ersten Welle der Covid-19-Pandemie, Seiten 35-58
Management
Compliance-Systeme: Vor Schaden bewahren
Pflege
Schwere Versorgungsdefizite bei Heimbewohner*innen
Pflege
Einsamer Dienst an der Corona-Front: Was Altenpflegekräfte in neun europäischen Ländern erlebten
Soziales
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Bildung
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