Suche
In ihrem Erstlingswerk „Radikale Zärtlichkeit“ hat sich die preisgekrönte Journalistin Şeyda Kurt 2021 damit beschäftigt, weshalb Liebe immer auch politisch ist. Die linke feministische Autorin klopfte das Konzept der romantischen Liebe auf seine patriarchalen, kolonial-rassistischen, kapitalistischen und deshalb unterdrückerischen Aspekte hin ab. Jetzt beschäftigt sich Şeyda Kurt mit dem Gegenteil, mit dem „Hass“ als einem politischen Gefühl. Wieder geht es ihr vor allem um die politische Bedeutung, um das kraftvolle, aufrührerische, umstürzlerische Potential von Hass und um Machtverhältnisse, die Hass wachsen lassen. Unsere Autorin Maicke Mackerodt hat mit Şeyda Kurt über das schöpferische Potential von Hass gesprochen.
Eigentlich wollte Seyda Kurt über „diskriminierungssensibles Fluchen und Beleidigen“ schreiben. Bei der Recherche spürte die Autorin einen solchen Widerwillen, einen solchen Hass, dass Şeyda Kurt beschloss, genau diesen Ursprungsfunken zum Thema zu machen. Hass gilt in einer offenen Gesellschaft gemeinhin als böse und tabu und sollte kulturell gar nicht existieren. Dabei ist er allgegenwärtig im Alltag, im Kinderzimmer, im Parlament, schreibt die Autorin. Für sie hat politischer Hass aufrührerisches und umstürzlerisches Potential und diese Aspekte befeuern ihr Kernthema: Hass und Herrschaft.
Für Şeyda Kurt, die in Köln und in Berlin lebt, kann Hass etwas Nützliches, etwas Befreiendes haben. Wut dagegen sei oft nur dann in Ordnung, wenn sie „lifestyle-feministisch augenzwinkernd“ daherkomme und bloß nicht zu aggressiv ist.
„Ich kann nicht mein Leben lang wütend sein, aber ich kann ein Leben lang hassen“, sagt Şeyda Kurt im Interview. „Die Wut ist für mich ein punktuell explosionsartig daherkommendes Gefühl.“ Der Hass dagegen sei zäh, grollt und rumort eher im Hintergrund und kann auf diese Art und Weise Antrieb sein zu handeln. Letztendlich geht es ihr immer ums Handeln. „Welche politischen Gefühle mobilisieren Menschen, bringen sie dazu, sich zu bewegen“, fragt sich die Autorin. Ausgehend von der Philosophin Hilge Landweer unterscheidet Şeyda Kurt den Hass auch von der Verachtung und stellt fest: In einem gesellschaftlichen System der Klassenhierarchien wird von oben verachtet und von unten gehasst. „Menschen, die ausgebeutet werden, die patriarchale Gewalt erfahren, haben gar keine andere Chance als das unterdrückerische Gegenüber, manchmal auch ihr Feindbild, sehr, sehr ernst zu nehmen, weil sie nicht den Luxus haben, sich einfach abzuwenden“, analysiert die Journalistin.
Şeyda Kurt holt den Hass aus der Versenkung und stellt fest, dass es ihn in fünf verschiedenen Spielarten gibt. Die Autorin ist vor allem fasziniert von gutem, produktivem, widerständigem Hass als politischem Gefühl. Um Hass menschlicher zu machen, hat Şeyda Kurt historische Figuren genauso auf die Bühne geholt wie Filmsequenzen aus türkischen Serien, Liedzeilen oder Schurken aus Disneyfilmen. Trickfilmhase Bugs Bunny wird ihr Mentor, begleitet und beschützt sie bei Panikattacken und versucht Şeyda Kurt am Ende im Traum sogar zu erdrosseln. Es gibt den widerständigen Hass jüdischer Untergrundgruppen wie Nakam, „die Anklage gegen die andauernde Gleichgültigkeit und Ignoranz der Gesellschaft erheben“, sagt die Autorin. Und aus Maxim Gorkis Roman „Drei Menschen“ wendet sie sich der Figur Ilja zu.
„Weil ich sehr früh bei meinen Recherchen auf Ilja gestoßen bin, begleitet er mich von der ersten bis zur letzten Seite“, erzählt Şeyda Kurt. „Am Ende habe ich um ihn getrauert wie um einen alten Freund, weil zum Beispiel Iljas Hass ihn am Ende in die Isolation führt und dann in die Selbstzerstörung.“ Deswegen sei für sie eigentlich die Frage nach Gemeinschaft ausschlaggebend. „Es geht mir immer um einen Hass, der Gemeinschaft hervorbringt und um einen Hass, der auch Zärtlichkeit hervorbringt.“
Şeyda Kurt differenziert zwischen dem strategischen Hass, der selbstreflektiert sei, kein Selbstzweck sein darf und immer eine Gleichzeitigkeit von Zärtlichkeit brauche. Den reaktionären Hass dagegen verortet die Autorin, angelehnt an Erich Fromm, in der Selbstverteidigung und in der Rache. „Hass kann das, was den Menschen entfremdet und entwürdigt, angreifen.“ Şeyda Kurt versteht Hass als eine Reaktion auf Unterdrückung, eine Selbstverteidigung, ein notwendiges Mittel der Gerechtigkeit. Es braucht ihrer Meinung nach den Hass auf das ungerechte System als Motor, um Zärtlichkeit hervorzubringen. Interessant und „eine große Inspiration“ war für sie die Frauenrevolution in Rojava in Nord- und Ostsyrien.
„In Rojava haben sich vor zehn Jahren im Zuge der Revolution die Völker der Region zusammengetan und eine autonome Selbstregierung ausgerufen, basierend auf einem Gesellschaftsvertrag. Diese Menschen sind durch den Islamischen Staat IS und durch die türkische Besatzungsarmee bedroht, „da sind Fragen nach Rache und Hass natürlich sehr, sehr relevant“. Alle arabischen und kurdischen Frauen, mit denen Şeyda Kurt gesprochen hat, hätten bestätigt, dass Hass und Rache nicht allein dabei helfen, eine neue Gesellschaft zu erschaffen.“ Dafür braucht es Versöhnungskommissionen, um zum Beispiel die Völker, die jetzt zusammenarbeiten sollen, aber über Jahrzehnte hinweg verfeindet waren, zu versöhnen und um auch eine weibliche Selbstverteidigung möglich zu machen.
Für Şeyda Kurt war das Schreiben auch ein Prozess der Traumaverarbeitung, wie sie es nennt. „Ich kannte keinen nachtragenderen Menschen als meine Mutter, lange habe ich ihr das nachgetragen“, schreibt die Journalistin. Soziale Ausgrenzung, ein Trauma, dass sie von den Eltern geerbt hat, die in den 1960er Jahren aus der Türkei nach Köln-Kalk eingewandert sind. Sie kennt das reflexartige Gefühl, mit Hass zu antworten. Erst viel später habe sie verstanden, dass nachtragend zu sein nicht nur bedeutet, den Hass bei sich zu tragen, den man nicht ablegen will, sondern von den Stimmen der Vergangenheit getragen zu werden.
„Natürlich passiert das sehr, sehr häufig gerade bei Familien, die Migration oder andere Formen von biografischen Brüchen und Gewalt erfahren haben“, sagt die Autorin. Für sie war in ihrer Kindheit und Jugend Bestrafung omnipräsent. „Es war eigentlich meine Muttersprache, weil das die erste Sprache ist, die meine Mutter gelernt hat, als Migrantin, als Arbeiterin und als Frau, die sehr viel patriarchale Gewalt erlebt hat.“
„Das war die Sprache, die sie mir weitergegeben hat, von daher war es sehr schmerzhaft, dieses Buch zu schreiben“, erzählt Şeyda Kurt schonungslos ehrlich. „Es war sehr schmerzhaft, mir diesen Hass wieder anzueignen und zurückzuerobern, ihn einfach passieren und existieren zu lassen.“ Das habe ihr neue Möglichkeiten auch der Zärtlichkeit eröffnet, ihr selbst, aber auch ihren Eltern gegenüber. „Ich schreibe aber auch über diese Sprachlosigkeit, die bei Hass immer im Raum steht, zum Beispiel sich manchmal die eigenen Eltern tot zu wünschen. Wenn man derart viel Hass empfindet ihnen gegenüber; das auszusprechen war sehr befreiend.“
Eine Frage wird der Autorin häufig gestellt, erzählt sie: Wenn die Gesellschaft so wäre, wie Şeyda Kurt sie in ihrem utopischen Alternativkonzept beschreibt: Der Kapitalismus und das Patriarchat wären abgeschafft, Kolonialismus und Imperialismus gibt es nicht mehr, gibt es dann auch keinen Hass mehr? „Das glaube ich nicht“, sagt Şeyda Kurt. „Sobald Menschen zusammenkommen, gibt es immer auch Konflikte.“
In „Hass“ erklärt Şeyda Kurt differenziert, weshalb zersetzender, aufbegehrender, sabotierender Hass durchaus sinnvoll sein kann. Die Journalistin sucht nach Darstellungsformen von widerständigem Hass in einer kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Welt. Vor allem Menschen in Befreiungs- und Klassenkämpfen interessieren die Autorin als Subjekte des Hasses. Beim Nachdenken über die Verstrickung der Gesellschaft in ein widerspenstiges, in ein widerständiges Gefühl wechselt die Autorin klug zwischen theoretischen Essays und Geschichten über Widerstand, zwischen persönlichen Erinnerungen und Traumelementen. Präzise analysiert sie die Machtverhältnisse, die Hass wachsen lassen. Es habe sie aber am Ende doch sehr überrascht, sagt Şeyda Kurt, wieviel der Hass mit der Liebe zu tun hat.
Autorin: Maicke Mackerodt
Weiterführende Links:
www.ndr.de/kultur/Seyda-Kurt-Hass-kann-Menschen-aus-der-Ohnmacht-holen,kurt144.html
www.sr.de/sr/mediathek/audio/SR2_SR2_DN_7282.html
https://pocolit.com/2023/04/05/hass-von-der-macht-eines-widerstaendigen-gefuehls/
www.zeit.de/zett/2023-03/seyda-kurt-hass-psychologie-gefuehle-tabu
https://taz.de/Buchpremiere/!5921570/
alle abgerufen am 25.04.2023
Gemeinsam sozial wirksam
Irmgard Nolte: Die Expertin für Kommunikation
Nachhaltigkeit
Klimaneutraler Gesundheitssektor – was unternimmt die Branche?
Arbeitswelt
SWP-Studie: Deutschland sucht Arbeitskräfte
Gesundheit
Gewalt in der Pflege: „Null Toleranz, klare Kommunikation, vertrauensvolle Ansprechpersonen“
Buchempfehlung
Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail