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Immer wieder berichten Medien über Pöbeleien, Nötigungen und tätliche Angriffe gegen Rettungskräfte, das Bahnpersonal oder Beschäftigte im Jobcenter. Auch für viele Pflegekräfte gehören Erfahrungen dieser Art zum beruflichen Alltag. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) widmet dem Themenbereich Gewalt in der Arbeitswelt einen Schwerpunkt ihrer Reihe „Forum“. Danach liegt gerade das Gesundheits- und Sozialwesen im Branchenvergleich solcher Delikte an der Spitze. Bei der Aufarbeitung von Gewaltereignissen und bei Präventionsangeboten gibt es hingegen noch viel zu tun.
Erhöhtes Aggressionsrisiko besteht zunächst überall, wo Beschäftigte direkten Kontakt mit Menschen haben, ob am Krankenbett oder an der Ladentheke. Diese Erkenntnis zieht sich durch alle Beiträge. Ebenso, dass Gewalt viele Gesichter hat, mit verbalen, nonverbalen oder körperlichen Übergriffen. Darüber hinaus jedoch ist das Gewaltgeschehen in der Gesundheits- und Sozialbranche von einigen Besonderheiten geprägt.
So gehen die Taten oft von Menschen mit geistigen und psychiatrischen Beeinträchtigungen und entsprechend herabgesetzter Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aus. Belastend wirkt sich aus, dass sich Pflegende und Pflegebedürftige auch nach erfolgten Übergriffen nicht aus dem Weg gehen können. Überdies haben Stressoren wie Zeit- und Personalmangel das Zeug zur Eskalationsspirale, die beide Seiten gegeneinander aufbringt, schreibt Dr. Heike Schambortski von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtpflege (BGW) in ihrem „Forum“-Beitrag „Gewalt in der Pflege“.
„Gewaltpräventionskonzepte in der Pflege haben bislang oft nur die Pflegebedürftigen im Blick“, gibt die Autorin zu bedenken. „Der Arbeitsschutz fordert aber auch den Schutz der Beschäftigten.“ Forschungen der BGW zusammen mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) liefern aufschlussreiches Zahlenwerk: Knapp 80 Prozent der rund 2.000 befragten Beschäftigten aus Altenpflege, Krankenhaus, Notaufnahme und Behindertenhilfe gaben demzufolge an, in den zurückliegenden zwölf Monaten am Arbeitsplatz Gewalt erlebt zu haben. 81 Prozent der weiblichen und 75 Prozent der männlichen Teilnehmenden berichteten von verbaler Gewalt durch Patientinnen und Patienten, auch körperliche und sexualisierte Gewalt wurde genannt.
Eine weitere Autorin der BGW thematisiert den wissenschaftlich noch wenig ausgeleuchteten Tatbestand sexueller Übergriffe gegen das Pflegepersonal. „Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz wird nach wie vor tabuisiert und stigmatisiert“, begründet Claudia Vaupel den Missstand. Laut einer Umfrage (2018) der Antidiskriminierungsstelle des Bundes war mit rund neun Prozent der Befragten jede elfte erwerbstätige Person in den vorangegangenen drei Jahren mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert. Von den Betroffenen waren drei Viertel weiblich, ein Viertel männlich. In 53 Prozent der Fälle gingen die Ereignisse von Patientinnen und Patienten oder Kundinnen und Kunden aus, bei 43 Prozent von Kolleginnen und Kollegen, bei 19 Prozent von Vorgesetzten oder Höhergestellten (Mehrfachnennungen). Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen sind im Branchenvergleich am stärksten gefährdet (16 %), gefolgt von den Bereichen Kunst, Unterhaltung, Erholung (14 %), Verkehr (13 %) und Handel (11 %).
Erlittene Übergriffe hinterlassen bei den Beschäftigten Spuren, stimmen beide Fachartikel überein. 68 Prozent der Betroffenen fühlen sich laut Schambortski belastet, ein Drittel sogar erheblich. Damit einher gehen häufig Selbstzweifel und Anspannung, manchmal auch innere Kündigung und Traumatisierung. Nicht zu vergessen körperliche Beeinträchtigungen durch Schmerzen sowie Verletzungen infolge von Bissen, Tritten und Schlägen.
Diese alarmierende Bilanz kontrastiert mit einer unterentwickelten Problemwahrnehmung in den Einrichtungen, konstatieren beide Fachbeiträge. So berichten 37 Prozent der Teilnehmenden der UKE-Studie, dass ihre Vorgesetzten keine oder nur geringe Maßnahmen zur Prävention von Gewalt und sexuellen Übergriffen etabliert hätten. Leitlinien zum Umgang mit Übergriffen in der Pflege insgesamt, Fallbesprechungen, Supervision und Deeskalationstraining seien klar unterrepräsentiert. Immer noch viel zu oft werde aggressives Verhalten von Patient*innen als unvermeidbarer Bestandteil professioneller Pflegearbeit hingenommen. Mit fatalen Folgen für Beschäftigte, Patient*innen und Einrichtungen: nachlassende Pflegequalität, Vermeidungsverhalten, Konflikte im Team und erhöhte Personalfluktuation.
Entscheidend sei, nach einem Vorfall nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen, unterstreicht Dr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer der DGUV in seinem Vorwort: Die Betroffenen brauchten Unterstützung aus ihrem Umfeld, Verantwortliche im Unternehmen müssten eine „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Gewalt deutlich machen. „Darüber hinaus sind klar definierte Kommunikationswege notwendig und feste Vertrauenspersonen, an die Betroffene sich wenden können.“
Zuallererst sei die Leitungsebene gefragt, meint Autorin Vaupel. „Prävention von und Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz ist ein Top-down-Thema“. Das schließt eine vorurteilsfreie gesamtsystemische Analyse des Gewaltpotenzials ein, denn Gewalthandlungen in der Pflege werden auch von Pflegekräften verübt, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Pflegeforschung (2017) enthüllte. „Es ist daher erfolgversprechender, Gewaltprävention für beide Zielgruppen gleichermaßen zu betreiben“, empfiehlt Expertin Schambortski.
Dazu zählen Maßnahmen auf drei Ebenen: Maßnahmen, die der Entstehung von Krisen entgegenwirken (Reduktion von Stressoren, reflektierter Umgang mit einschränkenden Maßnahmen), Maßnahmen, die Gefährdungen verringern (Notfallplan, Fluchtmöglichkeiten) und Maßnahmen zur Reduzierung gesundheitlicher Risiken nach aufgetretenen Krisensituationen (Unterstützung durch Führungskräfte und Kollegenschaft, psychosoziale Notfallversorgung).
Im Falle sexueller Übergriffe müsse die Schwelle zur Meldung niedrig und unbürokratisch geregelt werden. Eine Gefährdungsbewertung solle vorgenommen, Schutzziele formuliert und Präventionsmaßnahmen nach den sog. TOP-Prinzipien (technisch – organisatorisch – persönlich) abgeleitet werden. Die Einrichtung formeller Beschwerdestellen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist Pflicht. Wichtig zu wissen: Sexualisierte Übergriffe sind Arbeitsunfälle und der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung zu melden. Nur so können entsprechende Unterstützungs- oder Therapiemaßnahmen eingeleitet werden.
DGUV-Forum 3/2023, Schwerpunkt Gewalt, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, 60 Seiten
Darin:
„Es müssen klare Grenzen gezogen werden“, Interview mit Professor Thomas Bliesener, Seiten 3-4
Claudia Vaupel, Sexuelle Belästigung und Gewalt im Gesundheits- und Sozialwesen, Seiten 5-11
Heike Schambortski, Gewalt in der Pflege, Seiten 19-22
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