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Der Technikeinsatz bietet große Chancen für Pflegende und für die künftige Bewältigung demografischer Herausforderungen. Dies ist die zentrale Aussage des Forschungsberichts „Pflege 4.0: Einsatz moderner Technologien aus der Sicht professionell Pflegender“ der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Die Vorteile der Digitalisierung werden allgemein in einer besseren Vernetzung und Kommunikation, einer leichteren Informationssammlung und -verarbeitung, einer optimaleren Arbeitsorganisation und der Verringerung körperlicher Belastungen gesehen.
Damit kommt der BGW-Bericht zu einem ähnlichen Schluss wie andere Studien. Interessant ist hier die differenzierte Betrachtung: Untersucht wurden vier Fokus-Technologien: elektronische Dokumentation, Telemedizin, Technische Assistenzsysteme und Robotik. Der knapp 200 Seiten umfassende Forschungsbericht stellt die Resultate aus einer Literaturrecherche, zweier Workshops und einer schriftlichen Befragung unter 576 professionell Pflegenden vor.
Trotz aller positiven Perspektiven – die flächendeckende Implementierung moderner Technologien in die Pflege ist nicht einfach. Ein Problem besteht darin, dass Pflegende viel zu wenig in die Entwicklung neuer Technik involviert sind – und diese darum nicht immer zur Lebenswirklichkeit in der Pflege passt. Die Studienautoren fordern hier einen stärkeren Dialog zwischen Entwicklung und Pflege sowie mehr Teilhabe von Pflegenden an der Forschung.
Auch ist der Nutzen moderner Technik für die Pflegekräfte nicht immer nachvollziehbar. Hier wären regionale Standorte sinnvoll, wo Anwender beraten werden und moderne Techniksysteme ausleihen und testen können, bevor sie diese kaufen. So hat beispielsweise die dänische Stadt Odense, ein europäischer „Hotspot“ für E-Health, mit der Leihmöglichkeit von technischen Assistenzsystemen vor der Anschaffung sehr gute Erfahrungen gemacht.
Nach dem Vorbild der Experimentierräume des Bundesarbeitsministeriums (www.experimentierraeume.de) könnten in Pflegeeinrichtungen zudem Lernorte eingerichtet werden, in denen innovative Techniken ausprobiert und der Umgang mit diesen geübt werden kann. Ein aktuelles Beispiel ist die Forschungswohnung für Ambient assisted Living der Hochschule Kempten in einer Seniorenanlage: Dort können Studenten der Elektrotechnik und aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich mitten in der Zielgruppe forschen und die Senioren direkt mit einbinden (www.hochschule-kempten.de / AAL Living Lab).
Wichtig für die Akzeptanz einer neuen Technologie ist auch ihr Bekanntheitsgrad. Der Markt ist derzeit jedoch sehr unübersichtlich. Hier könnte eine systematische Übersicht über moderne Technologien in der Pflege mit Best-Practice-Beispielen und Nutzenbewertungen helfen. Die Autoren empfehlen dafür die Einrichtung einer Onlineplattform, die regelmäßig aktualisiert wird, außerdem Veranstaltungsreihen für Multiplikatoren.
Doch selbst wenn das Potenzial einer technischen Anwendung erkannt ist: Wie soll die Anschaffung finanziert werden? Das Zitat eines Workshop-Teilnehmers aus der Studie bringt es auf den Punkt: „Wir haben weniger ein Erkenntnisproblem und schon genaue Vorstellungen davon, was in den Bereichen Sturzprophylaxe, Ortung usw. gut funktionieren kann. Wir brauchen aber eine einfache Refinanzierungsmöglichkeit, um Technologien in die Fläche zu bringen und ihren Nutzen auf breiter Basis zu erproben.“
Damit beispielsweise technische Assistenzsysteme von den Kassen erstattet werden, müssen sie im Hilfsmittelkatalog verzeichnet sein. Nach Angaben der Studie ist darin bisher aber nur der Hausnotruf gelistet. „Eine Finanzierung von Technologien ist in der Pflege auch über den Hilfsmittelkatalog der GKV denkbar“, so die Autoren. Technische Orientierungshilfen, GPS-gestützte Systeme oder Einbauten im häuslichen Umfeld zur audiovisuellen Kommunikation könnten für eine Aufnahme grundsätzlich infrage kommen, weil sie die häusliche Pflege erleichtern und den möglichst selbstständigen Verbleib in der Häuslichkeit fördern. Zuvor müsste jedoch ihr Nutzen eindeutig nachgewiesen werden.
Die Finanzierung ist jedoch nicht die einzige Herausforderung: Auch Informations- und Rechtssicherheit sowie Qualitätssicherung (Stichwort Gütesiegel) spielen eine wichtige Rolle. Hierzu empfehlen die Studienautoren die Einrichtung einer „Interessensorganisation Pflege 4.0“, um unter diesem Dach die erforderlichen Strukturen für eine Digitalisierung zu entwickeln. Technikkompetenz müsse außerdem fester Bestandteil der Ausbildung werden.
Pflegekräfte müssen sich intensiv selbst einbringen. „Im Moment besteht noch die Chance, neue Handlungsfelder positiv zu besetzen. Vielleicht aber nicht mehr lange. ‚Augen zu und durch‘ ist deshalb keine Option“, macht die Studie unmissverständlich deutlich.
Pflege 4.0 – Einsatz moderner Technologien aus der Sicht professionell Pflegender, Forschungsbericht der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Hamburg 2017, 191 Seiten
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