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Ein Wort macht Karriere: Zusammenhalt. Eine zunehmende Zahl an Studien, Kommentaren und erst kürzlich eine prall gefüllte ARD-Themenwoche machen sich auf die Suche nach dem Wir in der Gesellschaft. Wo der Ruf nach Zusammenhalt laut wird, ist die Sorge vor Polarisierung und Spaltung nicht weit. Vor zwei Jahren nahm das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) seine Arbeit auf, ein bundesweiter Verbund mit elf wissenschaftlichen Einrichtungen. Eine aktuelle Pilotstudie leuchtet gesellschaftliche Konfliktlinien aus und fragt: Welche Polarisierungs- und Spaltungstendenzen gibt es hierzulande? Und was stärkt den Zusammenhalt?
Einwanderung, Corona, Ukrainekrieg sowie kulturelle, religiöse und ethnische Diversität – große Themen der Gegenwart, die mit ihren Verwerfungen direkt in unseren Alltag hineinwirken. Sie alle erschüttern tradierte Gewissheiten und polarisieren Meinungen. Zusätzlich heizen soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter die Art und Weise, wie wir öffentlich streiten, auf. Der Ton zwischen den sozialen Schichten und Gruppierungen werde rauer, beschreibt Autor und FGZ-Sprecher Prof. Olaf Groh-Samberg die Situation. „Alles zusammen führt zur Wahrnehmung, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet oder herausgefordert wirkt. Gleichzeitig stehen uns große Transformationen bevor, beispielsweise die Auswirkungen der Corona-Pandemie, der Klimawandel oder die Digitalisierung.“
Die Untersuchung basiert auf der deutschen Teilstudie des European Social Survey und einer Stichprobe aus dem Jahr 2020 mit 868 Befragten. „Von Polarisierung sprechen wir dann“, so die Autor*innen, „wenn systematische Meinungsunterschiede in wichtigen Wertefragen zugleich mit sozialstrukturellen Unterschieden der Lager einhergehen und sich diese Lager in ihren alltäglichen sozialen Netzwerken kaum mehr berühren.“ Demnach kristallisieren sich drei Konfliktlinien in der Gesellschaft heraus.
Im Gegensatz zu ihren Idealvorstellungen – etwa von einem kompromissorientierten Interessenausgleich, von Recht und Ordnung und einer pluralen Gesellschaft – nehmen die Befragten erhebliche Defizite in der Realität wahr. Mehr als die Hälfte (57 %) befürchtet so große soziale Ungleichheiten im Land, dass der Zusammenhalt gefährdet ist – davon 18 Prozent „voll und ganz“ und weitere 39 Prozent „eher“. Ein geringeres, aber dennoch ernstzunehmendes Ausmaß hat die wahrgenommene Gefährdung des Zusammenhalts aufgrund zu großer kultureller Verschiedenheit: Jeweils ein Viertel (26 %) sieht Deutschland in einem gefährlichen Maß überfremdet und hält eine zu große kulturelle Vielfalt für schädlich.
Die Zuordnung zu den genannten Konfliktlinien hängt der Studie zufolge nicht nur vom Einkommen und der Bildung ab, sondern auch von den „sozialen Flugbahnen“ der Befragten. Soll heißen: Politische Einstellungen und Konflikte werden neben den objektiven Lebenslagen auch von gefühlten Benachteiligungen bestimmt. „Das gilt insbesondere dann, wenn der Eindruck besteht, den eigenen Wohlstand hart erarbeitet zu haben und sich nun um die Früchte dieser Anstrengungen betrogen zu sehen oder mit großer Unsicherheit in die Zukunft blicken zu müssen.“
Wie lässt sich der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Basis für ein lebenswertes Gemeinwesen, stärken? Eine praxisbezogene Antwort sieht Autor Groh-Samberg in Dialogformaten, in denen über Einstellungs- und Milieugrenzen hinweg Perspektivwechsel und Konfliktabbau möglich wird. Ein Beispiel ist das Projekt „Ginger“ seiner Universität Bremen, bei denen interessierte Bürger*innen zusammen mit Wissenschaftler*innen Themen des gesellschaftlichen Zusammenhalts erforschen und in öffentlichen Veranstaltungen präsentieren (www.uni-bremen.de/ginger). „Schwierig wird es, wenn Gruppen gar nicht mehr miteinander reden können (…) und Regeln des demokratischen Diskurses missachtet werden. Das haben wir ja in den USA beispielsweise erlebt, wo eine Wahl nicht mehr akzeptiert worden ist oder aber Wissenschaft als Fake News abgetan wurde.“
So beispielhaft derartige Projekte im Nahbereich sind, so sehr bedürften sie der politischen Flankierung durch makroökonomische Maßnahmen, die den Haupttreiber für Lagerbildung und Polarisierung – soziale Ungleichheiten, Ungerechtigkeit und Verarmung – entschärfen und beseitigen. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation mit hoher Inflation und gewaltigem Transformationsdruck sei das schwierig, aber von entscheidender Bedeutung.
Task Force FGZ-Datenzentrum, Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gefährdeter Zusammenhalt? Polarisierungs- und Spaltungstendenzen in Deutschland, Bremen 2022, 88 Seiten, Download
Deutscher Caritasverband e.V., Umfrage: Corona lässt das Wir-Gefühl in der Gesellschaft schwinden, Pressemeldung vom 18.01.2022
Erschöpfte Gesellschaft. Auswirkungen von 24 Monaten Pandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2022, 18 Seiten
„Verstehen, was unsere Gesellschaft zusammenhält“, Interview mit Olaf Groh-Samberg, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin 2020
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