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Ullstein/Propyläen Verlag München 2021, 19,99 Euro, 363 Seiten
Johannes Krause hat einen ganz neuen Zweig der Forschung in Deutschland etabliert – und bekanntgemacht: die Archäogenetik und die Paläogenetik. Wo kommen wir her? Was macht den Menschen zum Menschen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Archäogenetiker. Mit Hilfe neuer genetischer Analysen fossiler Knochenfunde kann er die Geschichte der Menschheit präziser rekonstruieren als mit herkömmlichen archäologischen Methoden. Der Biochemiker und Genforscher vom renommierten Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig arbeitet mit Toten, die vor sehr langer Zeit gestorben sind, indem er ihre Erbsubstanz, die sogenannte DNA, uralter Knochen entschlüsselt. Wie wurde der moderne Mensch zur Bedrohung für sich und andere Menschen? Woher kommt diese „Hybris“? Dieser Frage geht er in „Die Reise der Menschheitsgeschichte zwischen Aufbruch und Scheitern“ gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalist Thomas Trappe nach.
Es gibt den Neandertaler, es gibt den modernen Menschen und jetzt hat Biochemiker Johannes Krause eine dritte Ur-Menschenform entdeckt. „Wir müssen jetzt nicht die gesamte Menschheitsgeschichte umschreiben“, sagt Johannes Krause im Skype-Interview mit unserer Autorin. „Im Prinzip kommt zum Familienstammbaum der Urmenschen einfach noch eine Art asiatische Cousine des Neandertalers dazu.“
Deren Erbgut, die sogenannte DNA, hat sich vor etwa einer Million Jahren von unserer heutigen DNA abgespalten. Entdeckt hat der Genforscher aus Leipzig die Denisovanerin, wie er sie getauft hat, mit Hilfe der Fingerkuppe eines etwa 13 Jahre alten Mädchens, die in der Denissowa-Höhle in Sibirien entdeckt wurde. Bei seiner Verwandtschafts-Analyse konnte Johannes Krause den gesamten Erbgut- und Genom-Bauplan des Mädchens entschlüsseln, das ihren Finger vermutlich vor 130.000 Jahren verloren hat. Spannend sei für ihn dabei die vorherrschende Frage: Wieso sind alle Urmenschen ausgestorben?
„Wohingegen wir, die modernen Menschen, uns innerhalb kürzester Zeit von 50.000 Jahren auf der ganzen Erde ausgebreitet haben, das ist in der menschlichen Evolution ein Wimpernschlag. Wir sind die intelligenteste Säugetierspezies geworden, die sich je auf diesem Planeten entwickelt hat.“ Für den Erbgut-Experten muss „irgendwas passiert sein in uns, in unserem Genom, was die Urmenschen nicht hatten“. Genau das hilft uns, seiner Meinung nach, die Genome von Neandertalern und den Denisovanern zu verstehen: „Indem wir die wenigen genetischen Unterschiede identifizieren, die sich auf der menschlichen Linie ereignet haben, denn die haben es uns ermöglicht so schnell zu expandieren und eine moderne Zivilisation zu entwickeln.“
Die ersten Menschen haben sich vor vielleicht 200.000 Jahren offenbar keineswegs blitzartig auf der ganzen Welt ausgebreitet. Vielmehr erzählen Thomas Trappe und Johannes Krause von unzähligen erfolglosen Anläufen, von Afrika aus über die sogenannte Balkanroute nicht nur weite Teile Europas, sondern die Welt bis hin zu den Osterinseln zu besiedeln. „Immer wieder scheitern unsere lebenshungrigen Vorfahren, sei es wegen des Klimas, aufgrund verheerender Naturkatastrophen oder wegen anderer Urmenschen, die Europa und Asien fest im Griff hatten“, schreiben die Autoren.
Vor 50.000 Jahren kommt die große Auswanderung, die auch zu den heutigen Menschen außerhalb Afrikas führt. Aber auch die sei erst mal nicht erfolgreich gewesen. Menschen dringen nach Sibirien vor. Diese Population stirbt aus. Menschen dringen nach Mitteleuropa vor. Auch diese Population stirbt aus. „Scheinbar waren Neandertaler oder Denisovaner unseren Vorfahren noch eine ganze Weile überlegen.“ Irgendwas sei vor vielleicht 40 bis 50.000 Jahren passiert, dass alle anderen Urmenschen aussterben und wir erfolgreich sind. Für Johannes Krause „ein dynamischer Prozess, stark geprägt von Migration und von Mobilität“. Richtig startete der große Erfolgszug erst in den letzten acht bis zehntausend Jahren, „als der moderne Mensch die Landwirtschaft entwickelte und sich schlagartig von wenigen Millionen Menschen weltweit auf heute 8 Milliarden Menschen ausgebreitet hat.“
Der gebürtige Thüringer Johannes Krause stammt aus Leinefelde, rein zufällig dem gleichen Dorf wie der Entdecker des Neandertalers. Erstaunlicherweise arbeitete er schon mit an der Erbgut-Entschlüsselung des Neandertalers. Zuletzt veröffentlichte der Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena gemeinsam mit Thomas Trappe den Bestseller „Die Reise unserer Gene“. Das Labor gehört weltweit zu einer Handvoll Einrichtungen, die regelmäßig für spektakuläre Forschungsergebnisse zur Menschheitsgeschichte sorgen. Seit 2020 ist der Archäogenetiker Johannes Krause einer von sechs Direktoren des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Erbgut von alten Knochen und archäologische Fundorte können für Johannes Krause viele Fragen beantworten: Wer ist von A nach B migriert? Welche Populationen haben Europa, Asien oder den Pazifik besiedelt? Wie sind die Menschen miteinander verwandt? Und wo kommen die Gene her, die wir heute noch in uns tragen? Für Johannes Krause ist Ahnenforschung im herkömmlichen Sinn mit einem eigenen Stammbaum im Grunde „fehlerhaft und nicht mehr zeitgemäß, weil wir alle mit den Ur-Populationen verwandt sind“. Denn für den Genforscher trägt jeder von uns zwei Prozent Neandertaler und Denisovaner in sich.
„Die meisten Leute haben das Gefühl, sie gehen auf eine oder fünf Personen zurück, die vor einigen hundert Jahren gelebt haben. Dabei verdoppelt sich mit jeder Generation die Anzahl der Vorfahren, über zehn Generationen hat jeder von uns tausend Vorfahren, von denen kennt man höchstens eine Handvoll“, weiß der Mediziner. „Genetiker haben gezeigt, dass tatsächlich alle Europäer mit allen Europäern verwandt sind, blutsverwandt über die letzten tausend Jahre. Wir sind wahrscheinlich alle mit Karl dem Großen verwandt, der um 800 gelebt hat, weil er viele Kinder hatte und dessen Kinder dann auch wieder Kinder hatten“, sagt der Genforscher lächelnd.
Gleichzeitig sei es so, wenn ich mit jemandem über 250 Jahre verwandt bin und weiß, dass mein Vorfahre um 1650 gelebt hat, dann ist es wahrscheinlicher, dass ich von dem nichts geerbt habe in meiner DNA, als dass ich was bekommen habe. „Deshalb spielt es auch gar keine Rolle mehr, wenn die Leute einen Stammbaum haben, der bis um 1600 oder bis 1500 zurückgeht, weil sie zumindest aus biologischer Sicht, aus genetischer Sicht nichts von dieser Person bekommen haben.“
Was den modernen Menschen als Erfolgsgeschichte die letzten eintausend Jahre vorangetrieben hat, „dieses Expansive, dieses Neugierige“, wie Johannes Krause es nennt, hat jetzt eine Grenze gefunden. „Wir sind an einem Kipppunkt in der Evolution, und wenn wir weiter so viele Ressourcen verbrauchen, wie wir es im Moment tun, kann die Menschheit in hundert Jahren nicht mehr existieren.“ Es ist wohl dieses höher, größer, schneller, weiter, was die anderen Urmenschen nicht hatten.
„Entdeckergeist“, nennt es der Archäogenetiker. Gemeint ist, an Orte vorzudringen, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist und das relativ schnell, sehr erfolgreich, aber auch sehr aggressiv. „Häufig war es die Überbevölkerung, die die Menschen zwang, in neue Regionen vorzustoßen“, so der renommierte Wissenschaftler, „und häufig sind dabei auch die Ökosysteme stark verändert worden. Die Megafauna auf allen Kontinenten ist ausgestorben in dem Moment, als der Mensch eingewandert ist und viele Teile der Welt sind zerstört worden, muss man geradezu sagen.“
Für Johannes Krause ist es tatsächlich so, „dass der Mensch sehr expansiv ist und damit gleichzeitig eine dunkle Seite hat, die Hybris, die der Titel des Buches in den Vordergrund stellt. „Diese Vermessenheit zu denken, wir können immer expandieren, uns immer wieder zu neuen Ufern zu begeben. Aber wir können nicht noch mehr expandieren. Die Welt ist komplett besiedelt, acht bald zehn Milliarden Menschen, wir können so nicht mehr weitermachen.“
Eine zusätzliche Hybris ist für den Wissenschaftler, „dass wir alles wissen und unseren Lebensstil nicht anpassen, nicht nachhaltig leben“. Mit dem Buch wollen die beiden Autoren zudem „den Menschen den Zahn ziehen, dass wir ins Universum expandieren könnten“: „Das ist nichts, was möglich ist für die Menschheit. Wir können da draußen nicht leben. Wir müssen uns auf die Erde konzentrieren.“
Thomas Trappe und Johannes Krause erzählen in „Hybris“ lebendig von Rückschlägen wie Pandemien, Klimakatastrophen und Kriegen, die immer wieder ganze Populationen unserer Vorfahren ausgelöscht haben. Aktuelle Forschungsergebnisse werden mit unterhaltsamen Geschichten fast zu einem Abenteuerroman verwebt, sodass man trotz der komplexen Erbgut-Materie fast immer gut folgen kann. Sie schlagen auch die Brücke zur aktuellen Corona-Pandemie und zur Erderwärmung und fragen: Wie wurde der moderne Mensch zur Bedrohung für sich und andere Geschöpfe der Welt? Woher kommt diese Hybris, dieser Hochmut? Liegt sie schon in den Genen?
Weiterführende Links
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-johannes-krause-100.html
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