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Tanja Busse und Christiane Grefe, Kunstmann Verlag München, 24,00 Euro, 240 Seiten
Alle wollen mehr Land: Für die Energiewende, für Autobahnen, für hunderttausende neue Wohnungen, die der Bundeskanzler „auf die grüne Wiese“ stellen will, für Moorvernässung, für Bioökonomie oder für Lebensmittel. Alles konkurriert um knappe Flächen. Der Druck auf den Boden nimmt zu und das ist nach Ansicht der Autorin Christiane Grefe die Ursache für multiple Krisen und Herausforderungen. In „Der Grund“ beschreibt die ehemalige Reporterin der ZEIT gemeinsam mit der Journalistin Tanja Busse, dass Böden existentiell sind für Ernährung, Wasser, Wohnen oder für Klimaschutz.
Der Klimaschutz kollidiert mit dem Artenschutz, der Naturschutz mit den Bauplänen einer wachsenden Bevölkerung, der Anbau von Energiepflanzen mit dem Aufstellen von Photovoltaik- und Windparks. „Um jeden Hektar wird gebuhlt“, sagt Christiane Grefe im Skype-Interview mit unserer Autorin. Wie wir mit den Böden umgehen, ist für sie die Überlebensfrage des 21. Jahrhunderts. Für die langjährige Reporterin des Wochenmagazins DIE ZEIT steckt darin „politischer Sprengstoff“:
Die Kämpfe um das Land, um den Grund und seine Nutzung sind ihrer Meinung nach längst entbrannt. Gemeint sind: Regierungen, Finanzfonds, Immobilienunternehmen, Firmenbesitzer, Investoren, Landwirte und Konsumenten oder Menschen, die in der Stadt wohnen. Es gäbe den schönen Satz von Mark Twain, „buy land, they don't make it anymore“, auf Deutsch: „Kaufen Sie Land, denn es wird keins mehr gemacht“, erzählt die Autorin. „Das heißt, Land war immer schon begrenzt und es hat auch immer schon weltweit Konflikte um die Flächen und ihre Nutzung gegeben: Wem sie gehören, wer darüber entscheidet, wer die Macht hat, auch über das Land.“ In der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir eine Begrenzung der Fläche, die noch zusätzlich versiegelt werden darf, weiß Christiane Grefe.
Das signalisiert ihrer Meinung nach, „dass wir uns schon des Problems bewusst sind, nämlich, dass zu viel Fläche versiegelt, zu viel Boden in seiner Lebendigkeitsfunktion beeinträchtigt wird.“ Wenn man das tut, dann wisse man, „dass Wirtschaften nicht unendlich wachsen können“. Das geht nur, wenn man den Boden komplett versiegelt – oder wie es die Autorin nennt: „Grund und Boden platt macht.“
Der Mensch zerstört mit seiner Lebens- und Wirtschaftsweise den Boden, auch in Europa, analysieren Christiane Grefe und Tanja Busse lesenswert in „Der Grund“. Die Zahlen sind ernüchternd: 60 bis 70 Prozent der Böden sind aus dem Gleichgewicht geraten oder beschädigt. In einem Viertel der europäischen Böden ist der Wassergehalt zu gering, etwa wegen der Verdichtung des Erdreichs durch den Einsatz schwerer Maschinen. Ein Viertel der Böden in Europa droht zu verwüsten. Erst wenn die Menschen schonender mit ihrem Boden umgehen, kann er sich regenerieren, sagt die Autorin.
„Der Boden ist nicht weniger als der große, atmende, lokale und planetarische Zusammenhang“, schreiben die beiden Autorinnen. „Er verbindet alles: die Atmosphäre, die Gesteinsdecke, den Wasserkreislauf, die Vielfalt aller Ökosysteme vom Wald über die Flussauen bis zum Acker. Das demütig anzuerkennen wäre ein erster Schritt für uns Boden-Ignoranten.“ Ihr Resümee: „Im Boden liegt der Ursprung, er ist der Urgrund alles Lebendigen und permanente Wiederauferstehung.“
„Wenn man sich damit beschäftigt, dann wird einem das einfach noch mal klar, dass über die Lebensprozesse im Boden tatsächlich so etwas passiert wie eine permanente Wiederauferstehung“, beobachtet Christiane Grefe. „Es werden ja Pflanzenteile oder Kadaver durch die Bodenorganismen verstoffwechselt. Was daraus entsteht, ist eben mit Kohlenstoff und Sonnenkraft neues Leben, also neue Pflanzen.“ Für die Autorin verdrängen wir das vielleicht sogar ein bisschen, „weil wir Erde mit Tod assoziieren oder mit Dreck.“ Ihrer Meinung nach haben wir uns viele Jahre lang nicht mit ihm beschäftigt. Jetzt erst steigt die Wissenschaft wieder ein und entdeckt, „wie unfassbar komplex und faszinierend all die Symbiosen im Boden sind.“
Auch große Agrarunternehmen steigen mittlerweile ein, beobachtet die Wissenschaftsjournalistin, „weil CO₂ im Boden gespeichert werden soll, weil man doch anfängt zu verstehen: Das ist unsere Existenzgrundlage, die mit allen anderen ökologischen Existenzgrundlagen unmittelbar verbunden ist.“ Für sie tobt im Boden das Leben – und um Grund und Boden toben alte und neue Flächenkonflikte.
Seit Jahrzehnten werde peu à peu so viel Fläche versiegelt, dass man ihrer Meinung nach gar nicht mehr bemerkt, wie dramatisch es ist. Anlass für die Recherche der beiden Journalistinnen war, dass neue Flächenkonflikte durch die Energiewende dazu gekommen sind, und zwar nicht nur durch Windräder und Photovoltaik-Anlagen, sondern auch durch die Transformation der Wirtschaft: Anstatt beispielsweise für E-Autos die alten Fabriken umzubauen, werde meist neuen Fertigungsstraßen gebaut. Die Autorinnen wissen, dass allein in Deutschland Flächen von der Größe von 100 Fußballfeldern pro Tag verbaut werden, aber EU-weit die Flächenversiegelung bis 2030 reduziert werden soll.
„Das passiert nur in der Praxis leider nicht“, sagt Christiane Grefe. „Wir waren zuletzt bei 54 Hektar, also 100 Fußballfeldern und jetzt gehen die Zahlen wieder hoch. Und wenn weiter so viele zum Teil landwirtschaftliche Flächen versiegelt werden, können Überschwemmungen viel drastischer ausfallen, weil das Wasser nicht mal versickern kann und stattdessen hemmungslos über die Flächen hinwegschießt.“
Lange sei der Autorin zudem nicht klar gewesen, dass die Flächenkonkurrenz alle anderen ökologischen Krisen bündelt. Erde wurde lange ignoriert, galt schlichtweg als ekliger Dreck, wie Christiane Grefe es ausdrückt. Mittlerweile erforscht die Wissenschaft die Zusammensetzung, die Fruchtbarkeit oder die Speicherfähigkeit von Böden – und das habe sie „total fasziniert“.
Die renommierte Journalistin beobachtet, „dass das im Moment ganz vielen so geht, sowohl in der Wissenschaft als auch in Politik und Industrie, wo es ja um CO₂-Zertifikate und Humusaufbau geht.“ Darüber werde inzwischen auch auf Managementtagungen diskutiert, weil man versuche, den Berichtspflichten über ökologische Maßnahmen gerecht zu werden. Da entstehe eine Art Bodenbewusstsein, wie Grefe es nennt.
Der Boden ist gefährdet, so Christiane Grefe: überdüngt, vertrocknet, zubetoniert. Er wird immer teurer und ist umkämpft. Anstatt immer weiter zu versiegeln, plädiert sie gemeinsam mit Tanja Busse dafür, eine Mehrgewinnstrategie für die vorhandene Fläche zu entwickeln. Gemeint ist, „möglichst viele verschiedene Früchte in lebendigeren Fruchtfolgen mit Sträuchern, Hecken, Bäumen auf der Fläche zu kombinieren.“ Dann habe man gleichzeitig etwas für den Artenschutz, für die Vielfalt im Boden, für die Kühlung und für die Verschattung getan. Für die beiden Autorinnen braucht der Boden diese „oberirdische Vielfalt und dieses systematische Mehrgewinnen-Denken.“
Potenziell ist jeder Quadratmeter Boden auf dieser Erde mehrfach verplant. Lösungen für diese Konflikte sehen die Autorinnen in Agroforstwirtschaft, Schwammstädten, Entsiegelungsprämien und Bodensteuern. Ein Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bezweifelt, „dass die Ideen für eine sinnvollere Nutzung und Bewahrung unserer Böden gerade mehrheitsfähig wären.“ Und für den Kritiker der Tageszeitung taz klingt die Utopie der autofreien Stadtviertel eher nach einem „Paradies für grüne Stadtplaner: „Alle Häuser haben Solardächer, ihre Fassaden sind begrünt, dazwischen Blüh- und Streuobstwiesen, grasende Schafe und Gemeinschaftsräume.“
Mit Blick auf die Transformation beobachten Tanja Busse und Christiane Grefe, dass ganz allmählich eine soziale Bewegung entsteht, die für eine „geerdete Gesellschaft“ kämpft. Und das heißt für die beiden Journalistinnen, „wir brauchen politische Diskussionen, die dieses Thema aufgreifen, die auch fragen: Wem gehört das begrenzte Land? Welche Gemeinwohlauflagen müssen wir denen, die das Land besitzen, auch mit auf den Weg geben? Sollte man Obergrenzen einführen, damit eben nicht immer mehr landwirtschaftsferne Akteure sich Land kaufen, weil man sich für die Zukunft Flächen sichern will?“ Versuche, regional ansässige Landwirte im Grundstücksverkehr gesetzlich zu bevorzugen, scheitern immer wieder, wie etwa kürzlich der Entwurf des sächsischen Agrarstrukturgesetzes. „Darüber mehr zu sprechen, das ist die geerdete Gesellschaft“, bilanziert Christiane Grefe abschließend.
In „Der Grund“ schreiben die Journalistinnen Tanja Busse und Christiane Grefe meinungsstark, verständlich und mit wissenschaftlicher Genauigkeit über alte und neue Flächenkonflikte. Am meisten überrascht waren die beiden Autorinnen, wie wenig „diese brutale Ungerechtigkeit“ im Bewusstsein ist: Weniger verbrauchen, also verzichten, sei nun mal eine unpopuläre Forderung. Weniger Produktkonsum, weniger Fleisch, weniger Mobilität, damit wollen sich die wenigsten auseinandersetzen. Am Ende werden Tanja Busse und Christiane Grefe deutlich: Mit der Versöhnung von Ökologie und Ökonomie, das wird nichts mehr. Es braucht einen klaren Perspektivwechsel, gemeint ist, innerhalb der Grenzen der Natur zu wirtschaften und von der Natur zu lernen.
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