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Gesundheits-/Sozialwirtschaft aktuell, April 2021
Anfang November 2020 hat das Bundesgesundheitsministerium Eckpunkte für eine Reform der Sozialen Pflegeversicherung veröffentlicht. Mitte März 2021 wurden die Pläne mit einem Arbeitsentwurf für ein entsprechendes Pflegereformgesetz weiter konkretisiert. Derzeit ist nicht absehbar, ob das umfassende Reformvorhaben bis zum Ende der Legislaturperiode realisierbar ist und welche Regelungen tatsächlich umgesetzt werden. Dennoch reagiert die Branche mit erheblicher Verunsicherung auf die jetzt bekannt gewordenen Leitlinien für eine Neuordnung der leistungsrechtlichen Basis im Bereich des Wohnens und der Pflege von Senioren.
Zentrale Zielsetzung der Reform ist eine spürbare finanzielle Entlastung der Pflegebedürftigen in der vollstationären Dauerpflege. Hierfür war im Eckpunktepapier von November 2020 noch eine Deckelung des pflegebedingten Eigenanteils auf 700 Euro pro Monat für maximal 36 Monate vorgesehen. Eine insgesamt geringere finanzielle Entlastung wird im Arbeitsentwurf von März 2021 aufgezeigt.
Geplant ist demnach eine zeitlich gestaffelte Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile in der stationären Versorgung: Durch entsprechende Leistungszuschläge der Pflegekassen soll der individuelle Eigenanteil bei den Pflegekosten im zweiten Jahr des Bezugs vollstationärer Leistungen um 25 Prozent, im dritten Jahr um 50 Prozent und ab dem vierten Jahr dauerhaft um 75 Prozent reduziert werden. Vor dem Hintergrund, dass bundesdurchschnittlich rund 45 Prozent der Bewohner*innen stationärer Pflegeinrichtungen innerhalb des ersten Jahres und knapp 60 Prozent innerhalb der ersten beiden Jahre nach dem Einzug versterben , würde ein Großteil der Pflegebedürftigen nur in einem geringen Umfang von der Entlastung profitieren. Insofern zielt die geplante Neuregelung v. a. auf eine Unterstützung bei einem besonders langen Aufenthalt im Pflegeheim.
Die weiteren Bestandteile des Heimentgelts – die Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie die Investitionskosten – sind weiterhin von den Pflegebedürftigen bzw. subsidiär vom Sozialhilfeträger zu zahlen. Im Bereich der Investitionskosten ist eine zusätzliche finanzielle Entlastung der Pflegeheimbewohner geplant, indem die Bundesländer einen monatlichen Zuschuss zu den Investitionskosten in Höhe von 100 € für jeden vollstationär versorgten Pflegebedürftigen gewähren.
Ab dem 1. Juli 2022 sollen bei Inanspruchnahme von ambulanten Pflegesachleistungen – ggf. zusammen mit Pflegegeld – die Leistungen der Tagespflege auf 50 Prozent begrenzt werden. Bisher können diese Leistungsansprüche ohne Abschläge kombiniert werden.
Mit der Neuregelung zielt das Bundesgesundheitsministerium explizit auf die Beseitigung von vermeintlichen Fehlanreizen im Hinblick auf entsprechende Angebotskombinationen, also Koppelungen von Betreutem Wohnen mit Tagespflege ggf. ergänzt um Ambulant betreute Wohngemeinschaften an einem Standort. Jedoch soll sich auch für Personen, die in ihrer angestammten Wohnung ambulant gepflegt werden oder Pflegegeld in Anspruch nehmen, der Leistungsanspruch auf ergänzende Tagespflege halbieren. Insofern wäre von einer Schwächung der Tagespflegen insgesamt auszugehen. Damit würde auch der rasante Ausbau dieser Versorgungsform in einigen Regionen gedämpft.
Bei den Verbundmodellen müssten solche Anbieter ihr Geschäftsmodell adjustieren, deren Bewohner täglich die Tagespflege in Anspruch nehmen. Bei den meisten Anbietern ist das aber nicht der Fall. Meist besucht nur ein Teil der Bewohner die Tagespflege und das auch nicht täglich. Diese Anbieter müssten den Anteil der externen Besucher erhöhen, das Geschäftsmodell stünde aber nicht grundsätzlich in Frage.
Die Reformpläne sehen verschiedene Maßnahmen für eine Stärkung der ambulanten und der Kurzzeitpflege vor. So sollen u. a. die Inanspruchnahme von Kurzzeit- und Verhinderungspflege durch einen gemeinsamen Jahresbetrag flexibilisiert sowie die Wahl einer Zeitvergütung anstatt der Abrechnung von Leistungskomplexen und eine teilweise Umwidmung des ambulanten Pflegesachleistungsbetrags für die Beschäftigung einer 24-Stunden-Betreuungsperson im eigenen Haushalt ermöglicht werden. Zudem soll eine Übergangspflegeleistung nach einem Kranken-hausaufenthalt in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt werden. Für die Kurzzeitpflege sind darüber hinaus besseren Rahmenbedingungen für die Aushandlung wirtschaftlich tragfähiger Vergütungen geplant.
Ab dem 1. Juli 2022 soll eine Bezahlung nach Tarif eine Voraussetzung für die Zulassung einer Pflegeeinrichtung durch einen Versorgungsvertrag werden. Geplant sind darüber hinaus die gesetzliche Verankerung der Einführung eines bundesweit einheitlichen Personalbemessungsverfahrens sowie weitere Fach- und Hilfskraftstellen für die vollstationäre Pflege. Zudem sollen Pflegefachkräfte künftig über erweiterte Aufgabenbefugnisse verfügen und so in der interprofessionellen Zusammenarbeit mit anderen Berufen des Gesundheitswesens gestärkt werden.
Die Leistungsbeträge für die ambulante Pflege, das Pflegegeld, Pflegehilfsmittel sowie die teil- und vollstationäre Pflege sollen einmalig um fünf Prozent angehoben werden. Ab Januar 2023 ist für diese und weitere Leistungen eine jährliche Erhöhung um 1,5 Prozent vorgesehen.
Zur Vermeidung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit sollen auch geriatrische Rehabilitationsmaßnahmen gestärkt werden. Vorgesehen ist eine künftige Beteiligung der Pflegeversicherung an den der Gesetzlichen Krankenversicherung hierfür entstehenden Kosten für Versicherte ab dem 70. Lebensjahr.
Als eigenständige neue Versorgungsform sollen „gemeinschaftlichen Wohnformen zur pflegerischen Versorgung“ in das SGB XI aufgenommen werden. Für diese Einrichtungen sollen separate Qualitätsvorgaben und für ihre maximal 15 Bewohner*innen bestimmte Leistungsansprüche gelten.
Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollen künftig bei der Suche nach einer geeigneten Versorgung und nach freien Plätzen über eine digitale Plattform unterstützt werden. Geplant ist zudem, für eine wissenschaftlich gestützte Erprobung von Telepflege 10 Mio. Euro in den Jahren 2022 bis 2024 zur Verfügung zu stellen.
Die Mehrausgaben durch die Pflegereform belaufen sich laut Bundesgesundheitsministerium auf geschätzte 5,1 Milliarden Euro pro Jahr. Gestärkt werden soll die Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung durch Beitragsanhebungen, die Erhöhung der staatlichen Zuschussförderung für die private und betriebliche Pflegevorsorge sowie einen verstärkten Einsatz von Steuermitteln.
Die im Eckpunktepapier von November 2020 aufgezeigten leistungsrechtlichen Impulse für eine veränderte Inanspruchnahme verschiedener Wohn- und Pflegesettings und eine entsprechende Veränderung der Versorgungsstrukturen sind im Arbeitspapier von März nur noch abgeschwächt zu erkennen. Insgesamt entspricht das Arbeitspapier dem bisher verfolgten Grundsatz "ambulant vor stationär". Für die Tagespflege könnten sich die Rahmenbedingungen verschlechtern, wenn der entsprechende Reformaspekt tatsächlich so umgesetzt würde. Konkrete Schritte zum Adjustieren einzelner Geschäftsmodelle können erst abgeleitet werden, wenn das Reformgesetz über das derzeitige Entwurfsstadium hinaus gekommen ist.
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Markus Sobottke (v.i.S.d.P.)
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