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Eigenheime zu Schleuderpreisen, verwaiste Einkaufsstraßen, ausgebuchte Pflegeheime – ist das die Zukunft so mancher Städte hierzulande? Fest steht: Die Babyboomer kommen in die Jahre, und der demografische Wandel macht sich zuerst in den Kommunen bemerkbar. Auch wenn das Bild zu düster gezeichnet sein mag – es kommt darauf an, frühzeitig gegenzusteuern. Belastenden Effekten stehen aber auch Chancen gegenüber. „Die Babyboomer gehen in Rente“ – mit dieser Thematik setzte sich kürzlich ein Symposium der Körber-Stiftung in Hamburg auseinander. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, griff in seinem Thesenpapier die Frage auf, was auf die Kommunen zukommt.
Die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre wichen der Zuversicht, die Menschen krempelten die Ärmel hoch und schufen Aufschwung und Wirtschaftswunder. Für viele Deutsche, die in den 1950er und 1960er Jahren geboren wurden, ging es immer nur aufwärts. Das sind die Babyboomer, wie der Bevölkerungswissenschaftler Klingholz sie nennt. Die Zeitläufe bescherten ihnen eine saftige „demografische Dividende“: Während ihre Eltern den Wiederaufbau schulterten und zahlreiche Kinder großzogen, versorgten sie weniger Kinder (rund 1,4 statt 2,2 wie ihre Eltern) und profitierten von hohen Wohlstandszuwächsen, die auch sie erarbeiteten.
Mittlerweile stehen wir vor einer Zäsur: „Das Zeitfenster der ,demografischen Dividende’ schließt sich und stellt alternde Wohlstandsgesellschaften vor immense Probleme“, hält das Arbeitspapier fest. Es stellt dazu sechs Thesen und Lösungsvorschläge vor.
Vor allem in kleinen Kommunen in ländlichen Regionen droht der Ruhestand der Babyboomer eine empfindliche Lücke auf dem Arbeitsmarkt zu reißen. Kleine und mittelständische Unternehmen, die heute noch für Jobs, Gewerbesteuer und Kaufkraft sorgen, könnte es besonders treffen. Was sollen Kommunen tun? Sie könnten etwa den Austausch zwischen Betrieben und Schulen anstoßen, um den Nachwuchs über Möglichkeiten der Berufswahl vor Ort zu informieren, bevor der sich anderweitig orientiert. Dazu bieten sich Praktika, Job- und Ausbildungsmessen an, empfiehlt Klingholz. Auch die betriebliche Nachfolgeregelung verlangt umsichtige Planung. Der Zentralverband des deutschen Handwerks geht von rund 200.000 Betriebsübergaben in den nächsten fünf Jahren aus. Kommunen könnten Betriebe darin bestärken, ihre Arbeitsbedingungen altersgerecht zu gestalten, um Generationenwechsel und Wissenstransfer sichern, rät das Thesenpapier. Als Beispiel dient eine Initiative im Kreis Höxter mit entsprechenden Workshops für Unternehmensvertreter.
Noch mehr als ihre Eltern bringen Babyboomer beim Eintritt in den Ruhestand reichlich Qualifikationen, körperliche Fitness, und Lust auf sinnerfüllte Arbeit mit. Fast die Hälfte der 50- bis 64-Jährigen ist ehrenamtlich aktiv (2014). „Babyboomer werden künftig maßgeblich die Gesellschaft mitgestalten – ob in politischen Ämtern oder durch ihr lokales Engagement“, ist Klingholz optimistisch. Allerdings sind die neuen Alten wählerisch. Projektarbeit liegt ihnen mehr als Vereinszugehörigkeit. Kommunen sollten diese Zielgruppe daher schon in der Vorruhestandsphase umwerben. Die Stadt Köln schreibt beispielsweise angehende Ruheständler an und informiert sie über Anlaufstellen fürs Ehrenamt. Vielerorts bewährt haben sich kommunale Freiwilligenagenturen zur Vernetzung von Angebot und Nachfrage an ehrenamtlicher Hilfe.
Mit der Familiengründung zog es viele Babyboomer typischerweise in die Speckgürtel an den Stadträndern. Mittlerweile sind ganze Wohnviertel von damals in die Jahre gekommen – so wie ihre Eigentümer. In weniger begehrten Regionen drohen Leerstand und Preisverfall. Die Kommunen sollten, so Klingholz, mit den Eigentümern Kontakt aufnehmen und erkunden, wer den Wegzug bzw. Verkauf plant. Dann sollten sie altersgerechte Angebote für diejenigen schaffen, die bleiben wollen und gleichzeitig dafür Sorge tragen, die Viertel für neue Zuzügler attraktiv zu machen. Schlimmstenfalls müssten sie sogar den Rückbau ganzer Viertel planen.
13 Prozent der 50- bis 65-Jährigen sind ledig, die Mehrheit davon Männer. Hinzu kommen 14 Prozent geschiedene und 4 Prozent verwitwete Personen. Das bedeutet, dass vielen Babyboomern im Alter Einsamkeit und Isolation drohen, zumal sie häufig keine oder weit entfernt lebende Kinder haben. Kommunen könnten den Bau von Mehrgenerationenhäusern unterstützen, Betroffene sollten sich zu altengerechten Wohn- und Hausgemeinschaften zusammenschließen, schlägt Klingholz vor. Neben solchen Projekten für eine eher betuchte Klientel bleibt die klassische Altenhilfe gefragt. Zukunftswerkstätten sollten die Bedürfnisse alternder Babyboomer darauf prüfen, inwieweit sie umsetzbar sind.
Auch dieser Aspekt macht deutlich, dass sich die demografische Dividende von einst in ein Minusgeschäft verkehrt: Mit den Babyboomern wird die Zahl pflegebedürftiger Menschen stark zunehmen. Außerdem übernehmen immer seltener Angehörige vor Ort die Pflege. Klingholz empfiehlt verstärkt die Gründung lokaler Netzwerke: „Ehrenamtliche und Angehörige übernehmen etwa Begleit- und Fahrdienste, geschulte Mitbürgerinnen und Bürger sorgen für die Grundpflege und helfen im Haushalt. Die Fachpflege erledigen Profis.“
Frauen, Migranten und Geringqualifizierte unter den Babyboomern haben ein erhöhtes Risiko der Altersarmut. „Kommunen können Altersarmut zwar nicht verhindern – das ist eher Thema der Bundespolitik – doch sie haben Einfluss auf die Lebensbedingungen vor Ort“, gibt Klingholz zu bedenken. Der Wissenschaftler rät, diese Möglichkeiten des Einwirkens insbesondere durch eine sozialverträgliche Wohnungspolitik und durch Angebote zur Teilhabe (Freizeitgestaltung, Treffpunkte) zu nutzen.
Vieles in diesem Thesenpapier ist nicht neu (etwa der Vorschlag lokaler Pflegenetzwerke), manches nur schwer umsetzbar, zum Beispiel der massive Eingriff der Kommunen in den privaten Wohnungsmarkt. Insgesamt aber kommt dem Papier das Verdienst zu, demografische Entwicklungen auf die Tagesordnung zu setzen, die längst am Stadttor angekommen sind. Gewaltige Aufgaben kommen auf die Kommunen zu: „Ob die Babyboomer für sie dabei aber zur Belastung werden, weil sie Kosten verursachen und teilweise auf Pflege angewiesen sein werden, oder ob die neuen Alten ihre Kompetenzen und Erfahrungen gewinnbringend lokal einbringen, das haben die Kommunen selbst in der Hand.“
Reiner Klingholz, Die Babyboomer gehen in Rente. Was das für die Kommunen bedeutet. Thesenpapier des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung für die Körber-Stiftung, Hamburg 2018, 19 Seiten, Download
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