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Beltz Verlag, Weinheim, 2017, 247 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-407-86449-9
„Sie sollten gut auf sich Acht geben. Sie sind nämlich der einzige Mensch, mit dem Sie garantiert Ihr ganzes Leben verbringen“. Was wie ein verschwiemelter Kalenderspruch klingt, ist überaus ernst gemeint. Für Georg Milzner (55) leben wir in einer Epoche, die „reich an Möglichkeiten und Abenteuern ist“ – und zugleich ein paar ziemlich heimtückische Nebeneffekte hat. Für den Psychologen aus Münster ist der bedeutendste Nebeneffekt: „Wir sind immer weniger Herrin oder Herr unserer eigenen Aufmerksamkeit“. Unzählige Kommunikationswünsche über soziale Medien und Chats, via SMS und Telefon und die fast schon antiquierten E-Mails.
Aufmerksamkeit nennt der Therapeut „den heißesten Stoff unserer Zeit“: „Begehrter als jede Droge, wesentlicher als jeder materielle Gewinn“. Bekommen Sie und ihre Liebsten die Aufmerksamkeit, die sie verdient haben? Oder gehen Kinder, Ehepartner, Freunde, nette Kollegen oft leer aus, fragt der renommierte Psychologe Georg Milzner in seinem aktuellen Sachbuch: „Wir sind überall, nur nicht bei uns. Leben im Zeitalter des Selbstverlustes.“
Auf dem Spielplatz nach den Kindern schauen, dabei die Mails checken – und möglichst gleich beantworten. Vor dem Schlafen gehen mit Freunden am anderen Ende der Welt skypen und gleichzeitig noch ein paar SMS verschicken. Den Großeltern während der Autofahrt ein WhatsApp-Smiley schicken, als Ersatz für den vergessenen Anruf. Facebook-Freunde zwischendurch mit Likes bei Laune halten, auch wenn man die meisten kaum kennt. Beim Waldspaziergang durch die Angebote der eBay-Kleinanzeigen scrollen, obwohl man nichts davon wirklich braucht. Bücher bequem online bestellen, selbst wenn man im Urlaub kaum Zeit hat, sie zu lesen. Das haben wir nun von der digitalen Revolution, die uns in atemberaubendem Tempo in eine neue Zeit katapultiert hat. „Es sind längst viel zu viele Kontaktmöglichkeiten. Ein so hoher Vernetztheitsgrad bewirkt bei den meisten eine ständige unterschwellige Unruhe. Dafür ist unsere Hirnstruktur nicht gerüstet“, weiß Georg Milzner.
Für Georg Milzner spielt vor allem die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der die Reize permanent in unserem Alltag eintreffen, eine wichtige Rolle: „Die Welt der Bilder und der visuellen Stimuli kann dazu führen, dass wir uns vom Nach-innen-Fühlen und damit von tieferen Gefühlsebenen abkoppeln.“ Natürlich will keiner mehr die Zeit zurückhaben, als der Nachbar das einzige Telefon weit und breit hatte. Aber: „Unser Vernetzungsgrad hat mittlerweile abnorme Züge angenommen und erlaubt uns immer weniger, zwischen wichtig und unwichtig zu differenzieren“, analysiert der Bewusstseinsforscher aus Münster. „Die modernen Medien haben etwas Ungeheures vollbracht: Sie haben Millionen Menschen miteinander vernetzt. Doch das Bedürfnis wahrgenommen zu werden und der Wunsch, andere wahrzunehmen, bleiben zunehmend unerfüllt. Die Folge: „Nach außen vernetzt, im Inneren vereinsamt.“
Wem nützt es, dass es mittlerweile freies WLAN an jeder Autobahnraststätte gibt. Natürlich ist es faszinierend, dass dank der Clouds und Tablets Kontakte und Mails über den Messenger pausenlos synchronisiert werden. So lässt sich ein Selfie vom einsamen Strand, das Cappuccino-Foto vom Markusplatz in Venedig sofort überall hin verschicken. Solche harmlosen Bilder sind isoliert betrachtet für Georg Milzner kein wirkliches Problem. Nur führt jedes Senden, Twittern, Posten, Chatten weg von den eigentlichen Bedürfnissen, wie in Ruhe einen Kaffee trinken, abschalten, Leute beobachten, mit seinem Gegenüber plaudern. Sobald der Cappuccino auf dem Tisch steht, gibt es sofort den Impuls, das Netzwerk zu informieren. „Bei uns selbst und beim Gegenüber sind wir dagegen nur noch selten“, betont der Psychologe, „und das, obwohl wir so viele Kontakte, Freunde, Follower haben. Unser Gehirn ist mit den großen Netzwerken schlichtweg überfordert.“ Hinzu kommt: Wenn ein Selfie der Höhepunkt des Tages ist, „verödet man allmählich und verliert schleichend die Freude am Leben“.
Schon beim Lesen des ersten Kapitels „Warum wir anwesend abwesend sind“ beschleicht einen zunehmend das seltsame Gefühl: Könnte Georg Milzner Recht haben? „Wir sind zappeliger geworden, genervter, wir werden richtig ärgerlich, wenn das Internet langsam ist und sind fassungslos, wenn es irgendwo gar kein WLAN gibt“, sagte der vierfache Vater zuletzt den Nürnberger Nachrichten. Der Verlust der Selbstaufmerksamkeit bedeutet für den Hypnotherapeut und Hypnoanalytiker nicht bloß Fahrigkeit. Vielmehr stellt dieser Verlust für den Therapeuten zunehmend die ganze Identität in Frage: „Indem die Ausbildung eines reifen Selbst, gemeint ist eine gefestigte Persönlichkeit, zunächst ans Wahrgenommen werden und dann an Selbstwahrnehmung und Selbstauseinandersetzung geknüpft ist.“
Für den Autor kommen wir bereits als Beziehungswesen auf die Welt und hören nicht auf, es zu bleiben. „Aufmerksamkeit ist die Währung, in der heute Gewinn und Verlust gemessen werden.“ Und sie ist für Georg Milzner die primäre Ressource unserer Beziehungen. Es ist längst bekannt, dass Babys, die keiner beachtet, sterben. Erwachsene sterben zwar nicht, wenn sie von niemandem beachtet werden, „verdorren aber wie weggeworfene Blumen“. „Ich habe zunehmend Klienten in der Praxis, die bestens informiert sind, alles gecheckt haben, aber kein Gefühl mehr für sich haben. Das Gefühl ist schlichtweg versiegt, für das, was sie wollen und was ihnen wichtig im Leben ist.“
Der Therapeut blickt auf gut 25 Jahre Praxiserfahrung zurück. Georg Milzner arbeitet mit Kindern und Jugendlichen, erforscht primär den Einfluss der digitalen Medien auf den Menschen. Zuletzt sorgte der streitbare Autor mehrerer Bücher für Furore mit seinem Buch die „Digitale Hysterie. Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen“. Aktuell beobachtet der Psychologe, dass immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene keine Ahnung haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.“ Zunehmend Sorgen bereitet dem Bewusstseinsforscher zunehmend Störungen wie Burn-out, Narzissmus, Depressionen. Für ihn ist der Selbstverlust das seelische Störungsbild unserer Zeit. „Das Selbst als Gesamtheit unserer Person verlangt vor allem, dass wir in uns hinein spüren und auf uns hören. Wer vielen Außenreizen erliegt, kommt nicht mehr nach innen. Und damit nicht zu sich selbst.“
Diese Formen der Selbstentfremdung betreffen für Georg Milzner längst nicht jeden, ziehen aber immer weitere Kreise. „Es braucht zwar ein kollektives Bewusstsein, gemeint ist, die Gesellschaft muss dringend in sich hineinhorchen.“ Die digitale Welt zu verteufeln und das Netz mit seinen unendlichen Möglichkeiten zu stigmatisieren, ist für ihn der falsche Weg. Es gilt vielmehr, inmitten „unserer lauten, fordernden Welt unser Inneres zu schützen und unsere Authentizität wiederzuerlangen, indem wir Krankmachern wie Informations- oder Reizüberflutung den Kampf ansagen“.
Aber am allerbesten fängt jeder bei sich selbst an. „Interessieren sie sich so viel wie möglich, was tiefer in Ihnen ist, interessieren sie sich für ihre Tagträume, für Dinge, die Leidenschaft auslösen, für die sie kämpfen würden“, mahnt der Autor. Losgelöst vom wissenschaftlich fundierten, gut lesbaren Buch klingen solche Sätze zunächst wie die übliche Esoterik-Romantik. Sie machen erst wirklich Sinn, wenn man die Einladung des Autors annimmt, sich mit den eigenen „heiklen Kompensationen“ und möglichen Irrwegen zu beschäftigen
Georg Milzner hat „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ in drei gut lesbare Abschnitte aufgeteilt. Er greift immer auch auf lebensnahe Beispiele aus der täglichen Praxis seiner Beratungsarbeit zurück, verweist auf Fernsehserien und aktuelle Studien, zitiert aus der Literatur. Anstatt kreuz und quer zu lesen, empfiehlt es sich, den 15 Kapiteln Aufmerksamkeit zu schenken. Der Autor beginnt mit dem „Informationsterror und den durchwachten Nächten“, macht darauf aufmerksam, dass die Metapher vom Netz „unsere Kultur des 21. Jahrhunderts prägt“. Im zweiten Teil beschäftigt er sich mit dem, was er „künstliches Selbst“ nennt. Wenn die wertschätzende, stärkende Aufmerksamkeit von Bezugspersonen fehlt, gibt es gegenwärtig vier Formen der Reaktion: Narzissmus, Fundamentalismus, Schwarmorientierung und Funktionalismus.
Im dritten Teil „Zehn Wege zu einem neuen Selbst“ bietet der Autor interessante „Wege“ an, wie Georg Milzner es nennt: Dazu gehört für Georg Milzner, neugierig hinter viele Türen zu schauen. Beispielsweise wieder ins Erzählen zu kommen, sich gründlich mit seinen eigenen Geschichten zu beschäftigen. Gedankenexperimente zulassen, ohne sich ablenken zu lassen oder herauszufinden, was man wirklich gut kann. Der „sicherste und schönste Weg zum neuen Selbst“ ist selbst für den Psychologen überraschenderweise: Mit anderen in Kontakt zu stehen. „Wirkliche Begegnung ist niemals der Feind der Selbstaufmerksamkeit.“
Georg Milzners aktuelles Buch ist eine großartige Analyse des heutigen Lebensgefühls. Der Bewusstseinsforscher stellt die großen Fragen nach Identität und Selbstfindung und zeigt individuelle und gesellschaftliche Auswege. Was Menschen dauerhaft wirklich beglückt, das sind für Georg Milzner in erster Linie intensiv gelebte Beziehungen und die Verwirklichung ihrer Talente. „Beides kann man nur mit einer Aufmerksamkeitsökonomie erreichen, die dem, was das Wichtigste ist, auch die meiste Aufmerksamkeit schenkt.“
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