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Sie werfen mit faulen Äpfeln, vergiften die Fische im Gartenteich und zerren sich vor Gericht. Wenn Streit unter Nachbarn eskaliert, fallen sämtliche Hemmungen. Doch es geht auch anders: Nachbarn gießen während des Urlaubs die Blumen, tauschen Heckenschere gegen Akkuschrauber und feiern gemeinsam Straßenfeste. Der erstmals vergebene Deutsche Nachbarschaftspreis zeichnete kürzlich die besten Initiativen mit Vorbildcharakter aus. „Die Auszeichnung soll Nachbarn motivieren, sich vor ihrer Haustür, in ihrer Straße und ihrem Viertel für ein lebenswertes Miteinander einzusetzen“, sagt Michael Vollmann, Geschäftsführer der nebenan.de. Der Preis wurde von der Nachbarschafts-Plattform gemeinsam mit der Diakonie Deutschland, der Deutschen Fernsehlotterie und Zalando vergeben. Er ist mit 50.000 Euro dotiert.
Die aktuelle Diskussion um gute Quartiersentwicklung nimmt Nachbarschaft in einer großen Bedeutungsvielfalt wahr: als Heimat, unterstützendes Netzwerk, als ein Ort, der Integration erleichtert und Entlastung für kommunale Dienstleistungen bietet. 1.300 Bewerbungen von gemeinnützigen Organisationen, Vereinen und Nachbarschaftsinitiativen gingen bei der Jury ein. Die Bundessieger (zwei Projekte teilen sich den zweiten Preis) stehen beispielhaft für Ideenreichtum und Gemeinsinn.
1. Preis, Bürgerinitiative Agora Köln, „Tag des guten Lebens“
Stadtleben ohne Autos – mit dieser Vision machen die Bürger ihr Viertel zu einem Marktplatz gemeinsamer Aktivitäten. Seit 2013 wird einmal im Jahr ein Kölner „Veedel“ für den Autoverkehr gesperrt. Bewohner, Vereine und Initiativen nutzen die entstandenen Freiräume für gemeinsames Speisen, für Flohmärkte, Diskussionen, Leserunden, Sport und Spiel. Das Ereignis wird von der Bürgerinitiative Agora Köln organisiert. Der letzte „Tag des guten Lebens“ fand im Juni 2017 in Köln-Deutz statt, umfasste 30 Straßen und zog laut Veranstalter 15.000 Besucher an.
2. Preis, Dorfverein Wir in Witzin, „Ein Dorf macht Zukunft“
Die rund 500 Nachbarn des mecklenburgischen Dorfes Witzin stemmen sich mit Ideen und Tatkraft gegen den Sog von Abwanderung und Verödung ihrer Gemeinde. Auf dem Weg in die Zukunft haben sie schon viel erreicht: etwa die Ansiedlung eines Bio-Landwirtschaftsbetriebes mitsamt neuen Arbeitsplätzen, die Wiedereröffnung des bereits geschlossenen Kindergartens und die Nutzung des Mannschaftstransporters der Feuerwehr als ehrenamtlicher Bürgerbus. Seit 2015 zieht wieder wie in früheren Zeiten ein Dorf-Bote durch den Ort und informiert die Bewohner über Neues und Wissenswertes.
2. Preis, Magdeburger Lebensmittelretter, „Lebensmittel retten und Nachbarn unterstützen“
Ab in die Tonne – nicht in Magdeburg! Aktive Bewohner der Nachbarschaft Stadtfeld sammeln Lebensmittel von Bäckereien und Supermärkten und bringen sie in Verteilstationen, in einem Familienzentrum, in einer Studentenkneipe und sogar in einem Tattoo-Studio unter die Leute. Bei wöchentlichen Kochabenden mit den geretteten Waren tauschen sich die Nachbarn aus, Flüchtlinge und bedürftige Bürger sind willkommen.
Nach welchen Gesichtspunkten wurden die eingereichten Projekte bewertet? Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland und Mitglied der Bundesjury des Deutschen Nachbarschaftspreises, hebt vier Kriterien hervor:
Der Nachbarschaftspreis ist ein Beispiel für die erfolgreiche Kooperation zwischen traditionsreichem Wohlfahrtsverband und dynamischem Start-up. Da sind zunächst Tempo und Organisation, mit dem die nebenan.de-Stiftung erfolgreiche Initiativen aus ganz Deutschland in wenigen Wochen zum Mitmachen bewegen konnte. „Von diesem Vorgehen können wir allemal lernen“, kommentiert Diakonie-Managerin Loheide. „Wir lernen voneinander, z.B. auch über digitale Werkzeuge, die wir bislang noch nicht mit gedacht hatten.“ Letztlich herrscht eine Win-Win-Situation: Während die Diakonie traditionsgemäß in Bündnissen und Kooperationen im sozialen Nahbereich arbeitet und dabei von der Internet- Plattform profitiert, kommt den Nachbarschaftsinitiativen vor Ort die fachliche Kompetenz der Diakonie zugute. Für Loheide steht fest: „So fließen spannende Perspektiven in die eigene Arbeit ein.“
Nachbarn gehen online und unterstützen sich offline – in den USA bedient der Marktführer nextdoor.com seit Jahren diesen Trend. Hierzulande finden Online-Netzwerke wie nebenan.de und nachbarschaft.net erst langsam größere Resonanz. Deutsche Start-ups grenzen sich gezielt gegen Facebook und seine lokalen Gruppen ab. „Wir sprechen nicht virtuelle Freunde, sondern echte Nachbarn an“, sagt Vollmann, zugleich Vorsitzender der nebenan.de-Stiftung. Wer auf der Plattform mitmachen möchte, muss seinen Klarnamen hinterlassen. Deutsche Datenschutzrichtlinien schützen die Inhalte vor der Weitergabe an andere Dienstleister.
„Wir wollen neue Wege und Partner finden“, hat sich Vollmann für die nächsten Jahre vorgenommen. Ideale Partner für nebenan.de sind Sozialunternehmen, Stiftungen, Quartiersmanager und Wohlfahrtsverbände. Es steht nicht schlecht um die Rückbesinnung auf gute Nachbarschaft. Das Bedürfnis der Menschen nach Überwindung der Anonymität in der Großstadt ist groß. Vereine und herkömmliche Brauchtumspflege alleine werden dieser Erwartung nicht gerecht. „Der Nachbarschaftspreis soll keine einmalige Aktion bleiben“, wünscht sich denn auch Maria Loheide von der Diakonie. Für sie bietet das digitale Nachbarschaftsnetzwerk eine zeitgemäße Ergänzung der herkömmlichen Quartiersarbeit der Kirchengemeinden.
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