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Gütersloher Verlagshaus 2018, 256 Seiten, Euro, ISBN
Wie wir Freundschaften führen, arbeiten, einkaufen und uns eine Meinung bilden – all das wird durch der Digitalisierung enorm geprägt – und nicht nur zum Besseren. Die große gesellschaftliche Debatte über die Digitalisierung beginnt für Dr. Alexandra Borchardt (52) gerade erst. Davon ist die Politikwissenschaftlerin zutiefst überzeugt. Vor drei Jahren schrieb die frühere Journalistin der Süddeutschen Zeitung ihre erste hochgelobte Streitschrift „Das Internet zwischen Diktatur und Anarchie“. In ihrem neuen streitbaren Buch „Mensch 4.0" beleuchtet die inzwischen an der University of Oxford arbeitende Autorin, die Vorteile und Chancen der digitalen Revolution. Aber auch die Risiken und Tücken rund um die Digitalisierung, für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen.
Zu Beginn stand hinter der Digitalisierung ein Versprechen von Freiheit und Abenteuer: Jeder kann sich mit jedem weltweit vernetzen und austauschen. Alexandra Borchardt zeigt auf, wo wir inzwischen selbst unbedingt gestaltend eingreifen müssen, wenn wir freie Menschen in der digitalen Welt bleiben wollen, wie es im Untertitel ihres Buches heißt. Bisher schwanken nämlich die Reaktionen auf die Digitalisierung zwischen Euphorie, Weltuntergangs-Stimmung oder schlichtem Desinteresse – nichts davon ist angebracht. Vielmehr fordert die Autorin dazu auf, endlich aufzuwachen und zu handeln, um keine nützlichen Idioten ökonomischer und politischer Interessen zu werden, wie sie es nennt. Noch sei es möglich, die digitale Welt mit zu gestalten.
Dazu hat die Politikwissenschaftlerin in ihrem Buch „Mensch 4.0“ viel Wissenswertes rund um die Digitalisierung zusammengetragen. Diese Basics ermöglichen einen kompakten Einstieg in die Thematik, beleuchten dezidiert das Für und Wider. Sie zieht dafür Erkenntnisse aus Psychologie und Gehirnforschung, aus Philosophie, Techniktheorie und Soziologie heran. Ihre präzise Bestandsaufnahme könnte als Basis für die gesellschaftliche Debatte dienen, die Alexandra Borchardt mit anstoßen möchte. Denn sie will es keineswegs verteufeln, wenn jemand bis zu 150-mal am Tag die Nachrichten auf seinem Smartphone checkt, aber es sei wichtig zu wissen: Das macht abhängig und unfrei.
Jedes Kapitel beleuchtet gut lesbar, wie die Digitalisierung einzelne Teilbereiche unserer Gesellschaft wesentlich verändert hat: Produktionswege, Shoppen, Meinungsbildung, persönliche Beziehungen oder unser Verständnis von Privatsphäre. „Es braucht Aufklärung über die Mechanismen hinter der Digitalisierung – auf jeden Fall darüber, dass viele kommerzielle Interessen im Spiel sind“, sagte Alexandra Borchardt im Interview mit unserer Autorin. „Die Verantwortung auf die einzelnen Bürgerinnen und Bürgern abzuwälzen, wäre aber zu viel verlangt. Vielmehr sind genauso die Firmen gefragt, die die Technologien herstellen – und die Politik, die diesen Unternehmen Regeln auferlegen muss."
Es gibt für die Autorin vier Gefahren, denen der Mensch 4.0 ausgesetzt ist. Der Verlust der Freiheit der Privatsphäre ist für Alexandra Borchardt eine der großen Bedrohungen. Es gilt zu erörtern, wie uns allen die Hoheit über die eigenen Daten zurückgegeben werden könnte. Die man preisgibt über die Smartphones und zunehmend auch über (Alexa-) vernetzte Wohnungen und Autos – und mit denen sich derzeit Unternehmen enorm bereichern. „Das Internet wird von Konzernen getrieben, man müsste den Nutzer zum Treiber machen“, schlägt Borchardt vor. Eine Idee wäre, Einzel-Apps abschaffen, über die sich jeder Kunde unzählige Male offenbaren muss. Stattdessen durch einen einzigen Zugangsdienst ersetzen, der die Daten der Nutzer schützt.“
Alexandra Borchardts Credo: Freiheit im digitalen Raum muss man sich erkämpfen. „Die digitale Welt ist kein Gewitter, das man aushält, bis es weg ist. Wir sollten es mit gestalten wollen und unsere Privatsphäre nicht den Software-Entwicklern überlassen.“ Seine Freiheit als Mensch 4.0 zurückzuerobern bedeutet auch, die Konzern-Monopole von Google, Amazon und Facebook mit Hilfe der EU-Wettbewerbshüter aufzubrechen. „Politischer Druck ist wichtig“, so die Autorin. „Auch wenn Mark Zuckerberg von Facebook nicht wirklich verstanden hat, worum es uns geht, denkt er jetzt: die verrückten Europäer.“
Aufgewachsen in Berlin, ging Alexandra Borchardt mit 20 Jahren in die USA, beschäftigte sich dort mit Demokratie und Umweltpolitik. Für ihre Dissertation recherchierte sie in Mexico City, London oder Los Angeles, wie man in der Umweltpolitik das beste politische Ergebnis erzielt. Mit mal mehr, mal mit weniger Bürgerbeteiligung. „Es gibt sehr viele Parallelen zwischen der Digitalisierung und der Umwelt. Umweltpolitik und unser Umweltbewusstsein mussten auch erst mit öffentlichen Debatten neu erfunden werden. Umweltbildung ähnelt sehr der heutigen digitalen Bildung, da kann ich jetzt gut dran anknüpfen:“
Seit vorigem Jahr arbeitet Alexandra Borchardt am Reuters Institue for the Study of Journalism an der University of Oxford. Auf ihrer Visitenkarte steht: Director of Strategic Development am Reuters Institute for the Study of Journalism. Sie ist die erste, die diese neugeschaffene Stelle in Oxford inne hat: „Wir sind eine Art Thinktank. Mein Job ist, die Forschung an der Oxford-University unter die Leute zu bringen und den Journalismus besser machen“, so die zweifache Mutter, die nur noch am Wochenende bei ihrer Familie in der Nähe von München ist.
Eine weitere Gefahr ist die Sicherheit: Alles, was vernetzt ist, kann durch Angriffe von außen erreicht werden. Der lässige Umgang mit Technologie und die Begeisterung über neue Möglichkeiten haben den Schutz vor Kriminalität häufig an die hintere Stelle rücken lassen. Damit meint Alexandra Borchardt nicht nur Hacker-Attacken, die Stromnetze und Flughäfen lahmlegen, Atomkraftwerke oder Waffensysteme manipulieren. Angriffe auf demokratische Prozesse wie Wahlen oder die Verbreitung von Fake News bedrohen auch die politische Teilhabe und die bürgerliche Selbstbestimmung. Privat ist das mit der Sicherheit eher schwierig, räumt die Autorin ein und empfiehlt die „tollen Checklisten“ vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik BSI.
Die Kernthese ihres Buches ist zugleich auch ihr „Herzensthema“: „Das Effizienz-Diktat brechen.“ „Wenn die Menschheit sich dem Diktat der Effizienz unterwirft, schafft sie sich selbst ab“, schreibt die Journalistin. „Bei dem Versuch, Ressourcen möglichst optimal einzusetzen, werden wir nicht mehr lange mit den Maschinen mithalten können, in manchen Bereichen schon jetzt nicht mehr. Das bedeutet, die Effizienz des Roboters zwar nutzen, aber auch mal das Navi ausschalten und sich überraschen lassen.“ (S.240) „Wir mögen alle den Services, der den kürzesten Weg von A nach B aufzeigt. Sich verfahren und vom Weg abkommen ist in unserem Leben nicht mehr vorgesehen. Schade eigentlich“, sagt Alexandra Borchardt.
Eine enorme Folge der Digitalisierung ist für die Politikwissenschaftlerin die geänderte Gesprächskultur. Das persönliche Gespräch ist ihrer Meinung nach nahezu verschwunden. Die Digitalisierung verändert unsere Beziehungen, unsere Freundschaften - und grenzt somit letztendlich unsere Freiheit ein. Alexandra Borchardt wirbt am Ende ihres Buches für eine Ökonomie der Freiheit. Sie meint – und das ist ihr wirklich ein Anliegen - neben WhatsApp, Messanger, LinkedIn das Gespräch zurückerobern. „Das ist nicht altmodisch. Vieles funktioniert nur über Gespräche, z.B. bei Kindern.“
Digitale Freiheit bedeutet für die Autorin auch, Codes selbst entwickeln zu können. Aber auch Geisteswissenschaften und schöne Künste zu erkennen. Zu begreifen, dass Kirchen mehr sind als ein Selfie-Hintergrund. „Nicht jeder muss Programmierer werden, aber man muss verstehen, wie das funktioniert. Früher konnte man bei Autos zumindest Glühbirne und Keilriemen wechseln und musste den Führerschein machen. Das könnte man auch im Digitalen einführen.“
Eine wichtige Erkenntnis bei der Recherche zu Mensch 4.0: „Wenn man sich einliest, hat mich schon erstaunt, wie skeptisch viele Fachleute sind. Wie viel Sorge im Silicon Valley da ist, bei Experten, die unmittelbar mit der Entwicklung beschäftigt sind. Unter Fachleute herrscht große Sorge und viel mehr Skepsis, als ich erwarte habe. Skype-Gründer Ahti Heinla sagt: Die Digitalisierung ist so, als ob man ein Raumschiff startet, aber man kann es noch nicht kontrollieren. Man hat vergessen über Werte und Ethik nachzudenken, das hat man 50 Jahre lang verpennt.“
Deutlich wird, wie dringlich die Frage längst geworden ist, ob wir in der digitalen Welt wirklich noch frei sind. Oder in der „gigantischen Manipulationsmaschinerie“ schon längst den Überblick verloren haben. Alexandra Borchardt benennt die Akteure in den digitalen Schaltzentralen, macht aber auch auf viele kleine, scheinbar harmlose alltäglichen Veränderungen aufmerksam. Und sie ermutigt Europa – also uns – seine Wertvorstellungen für eine vernetzte globale Zukunft einzubringen - und ein wichtiges Gegengewicht zu bilden. Gegenüber der kommerziell ausgerichteten amerikanischen Version und der autoritär geprägten chinesischen Variante.
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