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Rowohlt Verlag Berlin 2021, 448 Seiten, 24,- Euro
Der Biologe und Journalist Lothar Frenz lebt seit über 20 Jahren in Hamburg und schrieb zuletzt, gemeinsam mit Loki Schmidt, Ehefrau des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, das „Naturbuch für Neugierige“. Kurz vor ihrem Tod veröffentlichte Lothar Frenz 2019 das sehr persönliche Portrait „Ein Jahr mit Loki“. Der Biologe schreibt in zahlreichen Büchern über Natur- und Artenschutz, entdeckte sogar selbst in Amazonien eine bislang unbekannte Großtierart, das größte Schwein Südamerikas, das Riesenpekari. In seinem neuen Buch „Wer wird überleben?“ widmet sich der Autor der „Zukunft von Mensch und Natur.“ Im Skype-Gespräch mit unserer Autorin erläutert Lothar Frenz, weshalb wir an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt sind:
„Unsere eigene Art wird durch nie dagewesene Infektionskrankheiten bedroht, auch uns Menschen ist längst die Überlebensfrage gestellt. Das merken wir ja gerade selber in dieser Coronakrise, da geht es um ganz konkrete Überlebenssituationen für einzelne Menschen und für die Gesellschaft. Was macht dieses Corona mit unserer Gesellschaft und mit der ganzen Welt? Wo führt uns das hin? Das sind existenzielle Situationen“, sagt Lothar Frenz im Skype-Gespräch mit unserer Autorin. Es geht um unser Verhältnis zur Natur und um die Beziehung zu unseren Mitbewohnern, „der anderen Spezies“, wie der Autor es nennt. „Die eigentlichen Fragen sind noch viel existentieller, wenn wir sehen, was mit der Klimakrise passiert und wie unsere Ökosysteme degradiert und zerstört werden.“
Kenntnisreich und plausibel beschreibt Lothar Frenz im ersten Teil des Buches, wie in Amerika durch das „nostalgische Bemühen einiger Weniger“ Naturschutzkonzepte entstanden sind, um bedrohte Arten zu schützen. Zur Bestandsaufnahme gehört Yellowstone, der erste Nationalpark der Welt, in dem wegweisend gesichert wurde, dass dort die durch weiße Invasoren fast ausgerotteten Bisonrinder wieder grasen. Der Biologe beobachtet den dringlich notwendigen Fortschritt im Natur- und Artenschutzgedanken: „Weg von diesem rein emotionalen wie ‚Wir müssen etwas Schönes bewahren‘ oder ‚Wir handeln nur aus Schuldgefühl‘, hin zum Prozesscharakter der Natur. Wenn wir jetzt mehr schützen, schauen wir, welche Funktion hat die Spezies in ihrem Lebensraum“, erläutert Lothar Frenz. „Die ganzen javanischen Singvögel mit ihren unterschiedlichen Schnäbeln, die befruchten Blüten und fressen bestimmte Insekten weg, die vielleicht sonst unsere Ernte beeinträchtigen. Oder die scheiden Samen aus mit einer Portion Dünger und verjüngen dadurch den Wald. Das sind ja Gedanken, die wir heute haben.“
Der Journalist gibt auch erhellend Einblick in wichtige Wendepunkte für sein persönliches Verhältnis zur Natur und wie er die Welt sieht. Versuche zur Rettung seines Lieblingstiers, das urige Sumatra-Nashorns mit dem zotteligen Fell, das im tropischen Südostasien gelebt hat, verfolgte Lothar Frenz seit seiner Kindheit. Damals gab es noch ein paar Tausend, das einzige, was er je gesehen habe, war Anfang der 90er Jahre im New Yorker Bronx-Zoo, schreibt der Autor. Die Erkenntnis, dass diese Art vermutlich trotz vieler Bemühungen von westlichen Zoos ausstirbt, geht ihm nahe: „Selbst wenn wir uns kümmern, heißt das nicht immer, dass es klappt.“ Für Lothar Frenz trotzdem ein Symbol dafür ist, „dass wir dringend etwas tun müssen“.
Den Blick auf die Welt hat auch sein Erlebnis in Uganda verändert, als er beim Projekt in der Jane Goodall Stiftung mit halbwilden Schimpansen zu tun hatte. Als Biologe wusste er natürlich, wie nahe Schimpansen den Menschen sind, „dass wir 98,7 Prozent gleiche DNA haben“. Als sich diese Schimpansen, mit denen Lothar Frenz im Wald unterwegs war, auf seinen Schoß setzten „und anfingen, ihn zu erkunden und zu liebkosen und ihn quasi eingeladen haben, es umgekehrt zu machen, „da sind für mich Grenzen verschwommen: Dann saßen wir da, strichen uns durchs Gesicht und das war total zärtlich, das war intim, das war ein gegenseitiges Entdecken, wie ich es sonst nur mit Angehörigen meiner Spezies kannte. Das ist anders, als wenn ein Hund dasitzt. Das hat meinen Blick auf die Welt wirklich verändert.“
Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht auf zahlreiche Reisen und Expeditionen entweder das Entdecken vor der Haustür. Oder der Journalist und Biologe bereist die letzten weißen Flecken der Erde, besucht Länder wie Tasmanien, Papua-Neuguinea, die Mongolei oder Uganda, Orte, an denen Arten um ihr Überleben kämpfen.
2000 schrieb Lothar Frenz ein Buch über „Kryptozoologie“, in dem er sich mit unbekannten, noch nicht entdeckten Arten beschäftigte. Im zweiten Buch über das „Verschwinden der Arten“ erzählte er von „Lonesome George“, der letzten, inzwischen verstorbenen Riesenschildkröte auf den Galapagos-Inseln. „Lonesome George“ wurde als Umweltbuch des Jahres 2013 ausgezeichnet.
Jetzt im dritte Teil „Wer wird überleben?“ beschreibt Lothar Frenz, weshalb es gelingt, die eine Spezies vor dem Aussterben zu bewahren, während andere Lebewesen wie die Wandertaube nicht gerettet werden konnten. Die Antworten sind meist sehr komplex und für Menschen nicht immer angenehm. Sachlich, mit großer Detailkenntnis und sehr lesenswert erzählt Lothar Frenz, wie Davidhirsche, Pandas oder der Trauerschnäpper von engagierten, verrückten Kümmerern vor dem Artentod gerettet wurden. Diese gelungenen Rettungsaktionen sind noch gar nicht so lange her und der Autor erzählt gut lesbar, wie aufwendig es geworden ist, seltene Arten zu bewahren. Etwa das legendäre Weiße Oryx, das an ein Einhorn erinnert und von Jäger bis auf wenige Tiere dezimiert worden war. Es war ein Zuchtprogramm in den Vereinigten Staaten nötig, um es genetisch aufzupäppeln, bevor es wieder in seiner alten arabischen Heimat angesiedelt werden konnte. Oder wie es gelang, die in der Mongolei ausgerotteten Urwildpferde wieder anzusiedeln und sie heute vor unerwünschten Kreuzungen mit Hauspferden zu schützen.
Nach seinen vielen Recherchereisen zu ungewöhnlichen Natur- und Artenschutz-Projekten fragte sich der Journalist irgendwann ganz frustriert: Gibt es wilde Natur nur noch als geschützten Sonderfall im Reservat? Strikt abgetrennt von der Welt der Menschen. „Ich spürte eine große romantische Sehnsucht nach Natur in mir, die einfach nur aus sich heraus da war, ganz ungeschützt, und nicht von uns abhängig“, schreibt Lothar Frenz. Er fuhr nach Amazonien in Südamerika, in den größten Regenwald der Erde. Lesenswert beschreibt Lothar Frenz, wie er in ein Gebiet am Städtchen Novo Aripuana, größer als Frankreich, in der Nähe des Rio Madeira, in einen prächtigen Urwald voller unentdeckter Arten eintaucht, wo nur wenige Menschen an den Flussufern leben: „Wo kein Quadratmeter geschützt war. Das tat meiner Seele so gut, zu erleben, dass es das noch gibt, ohne uns.“
Die zweite Erkenntnis: „Dieser Urwald war Menschen geprägt. Wir haben dort überall Spuren in diesem Wald gefunden, da waren karibische Pflanzen, die von den Bewohnern Amazoniens noch vor Kolumbus dorthin gebracht. Heute wissen wir, Amerika war viel dichter besiedelt.“ 60 bis 100 Millionen Menschen, ein Fünftel der Erdbevölkerung lebte dort in großen Kulturen, bevor Kolumbus kam. „Die haben diesen Urwald total geprägt und sind alle gestorben an den Seuchen, die die Europäer mitgebracht haben.“ Zu den einschneidenden Erkenntnissen für Lothar Frenz gehört, dass dieser Urwald gar kein Urwald ist - und: welche Wucht die Natur hat. „Die baut mit allem, was sie vorfindet, egal woher es stammt. Und ja, sie kommt auch ganz stark zurück, wenn man sie lässt und daran liegt für mich auch ein ganz hoffnungsvoller Gedanke drin.“
Interessanterweise beschäftigt sich Lothar Frenz gleich am Anfang ausführlich mit dem gefährlichen Guineawurm, einem tückischen, ekligen und wenig erforschten Parasiten, für dessen Erhalt sich letztendlich keiner einsetzen würde. „Wir wollen gar nicht alle Tiere retten, sondern rotten auch sehr gezielt aus“, schreibt der Journalist. „Dieser meterlange schreckliche Wurm, der in zentralafrikanischen Gewässern lebt, den will keiner von uns haben will. Der steht kurz vor der Ausrottung und schlängelt sich wahrscheinlich um den Äskulapstab.“ Faszinierend beschreibt Lothar Frenz, dass ihn dieser hirnlose Wurm zum Staunen gebracht hat: „Die Menschen, die ihn haben, lenkt er zur richtigen Zeit ans Wasser, damit sie ihn freisetzen. „Unser Immunsystem kann nichts gegen diesen Wurm tun und es gibt auch kein Medikament.“ Das einzige, was hilft: Den Wurm langsam an einem Stöckchen aus dem Körper zu ziehen. Die Theorie ist, dass dies das Urbild für den Äskulapstab ist.“
„Wer wird überleben?“ liefert in sechs Kapiteln fundiertes Hintergrundwissen über öko-logisches Denken in langfristigen Zeiträumen, über Umweltpolitik und über Natur und Artenschutz und die komplexen Wechselwirkungen. Wie ein roter Faden ziehen sich durch die vielen, gut verständlichen Beispiele immer wieder die tiefergehenden Fragen, die für die Zukunft entscheiden sind: Wer darf mit uns überleben? Wie soll entschieden werden, wer überleben darf? Wer entscheidet das nach welchen Kriterien? Was steht überhaupt in unserer Macht und wo sind unsere Grenzen? Geht es um Seltenheit? Können wir alle retten? Lothar Frenz präsentiert seine Überlegungen und Fragen wohltuend unaufgeregt und sehr überzeugend auch am Beispiel der Pandemie und der Klimakrise: Mit Erkenntnissen, die letztendlich sogar etwas Optimistisches haben und nach dem Lesen noch lange nachhallen.
Weitere Informationen:
Lasst uns gute Parasiten sein, in: Deutschlandfunk Kultur, 23.04.2021
(abgerufen am 28.06.2021)
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