Suche
Corona bedroht uns auf zweifache Weise – als Virus und Spaltpilz. Gegen das Virus hilft Impfung, gegen den Spaltpilz ist noch keine Immuntherapie gefunden. Seit mehr als einem Jahr wirkt die Pandemie als gesellschaftlicher Stresstest, dessen unbewältigte Folgen noch lange spürbar sein werden. Das soziale Miteinander ist bedroht, stellte kürzlich die Bertelsmann-Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie“ fest: Das Vertrauen in die Mitmenschen schwindet, die Zukunftsängste der Deutschen haben sich verschärft – vor allem bei den heute unter 30-Jährigen.
Für die Langzeitstudie wurden im vergangenen Jahr 611 Menschen dreimal befragt (Febr./März, Mai/Juni, Dez.) und die Ergebnisse verglichen. Dabei trat Überraschendes zutage: Im Vergleich zu Umfragen vorangegangener Jahre sahen die Befragten bis zum Sommer 2020 – also nach dem ersten Lockdown – auffallend mehr Miteinander in der Gesellschaft, schreiben die Autor*innen. Aus dem Gefühl heraus, eine große Herausforderung gemeinsam gemeistert zu haben, führte die Krise Menschen über alle sozialen Gruppen hinweg zusammen. Ähnlich sieht es beim Vertrauen in die Regierung aus. In der Skala von 1 (überhaupt kein Vertrauen) bis 5 (sehr großes Vertrauen) ergibt die Befragung bis zum Sommer bei allen Einkommensgruppen einen hohen Mittelwert, bei der Mittelschicht sogar den Skalenwert 4 (großes Vertrauen).
Die Erhebung zeichnet eine dynamische Gefühlsverfassung der Deutschen nach. Je länger die Krise anhielt, desto mehr nahmen Unzufriedenheit und Enttäuschung zu, wurde ein Auseinanderdriften einzelner Gruppen sichtbar. Ein deutliches Warnsignal: Bereits im Sommer trübten sich die Zukunftsperspektiven bei den Befragten ein, im Dezember 2020, im Zeichen steigender Inzidenzwerte und des zweiten Lockdowns, äußerten bereits 80 Prozent ihre Sorge um die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
In einer Klassifizierung nach sozioökonomischer Lage („Prekäre“, „Mitte“, „Gehobene“) sinkt bei der Angehörigen der prekären Gruppe das Vertrauen in die zwischenmenschliche Solidarität. Bei einer Unterscheidung nach Bildungsniveau („niedrig“, „mittel“, „hoch“) lässt die Zufriedenheit mit der Demokratie bei allen drei Gruppen nach, bei den Menschen mit dem niedrigsten Bildungsniveau am stärksten. Die Befragten, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befanden, gaben zum Jahresende mehrheitlich an, sich große Zukunftssorgen zu machen.
Die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen nahmen während der Krise zu: „In der Wahrnehmung der beiden höheren Bildungsschichten haben die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und die zugehörige Kommunikation offenbar das Vertrauen in die Demokratie bestätigt und zum zumindest zum Teil bestärkt. Personen aus der niedrigeren Bildungsgruppe sind hingegen zunehmend ernüchtert und unzufrieden mit dem, was die Politik tut, um die Pandemie einzudämmen.“
Auch bei jungen Menschen unter 30 Jahren nahmen die Zukunftsängste deutlich zu. Im Dezember 2020 äußerten laut Studie zwei Drittel in dieser Altersgruppe Zukunftssorgen, während der Wert in den anderen Altersgruppen zwischen rund 20 und 40 Prozent lag. Die Autor*innen sehen eine Ursache dafür im zunehmenden Gefühl der Isolation bei den Jungen: Bei ihnen stieg der Anteil derer, die sich einsam fühlten, von 46 auf 71 Prozent, ungeachtet der hohen Zustimmung zu den staatlichen Coronamaßnahmen in dieser Altersgruppe.
Heute, ein gutes halbes Jahr nach dem Ende des Befragungszyklus, ist die Impfung in der Bevölkerung fortgeschritten, die Menschen genießen die Rückkehr zur Normalisierung und freuen sich auf den Sommerurlaub. Dennoch dürften die krisenhaften sozialen und wirtschaftlichen Begleiterscheinungen der vergangenen Monate noch einige Zeit nachhallen. Der zermürbende Kampf gegen das Virus hat eine gesellschaftliche Dynamik mit offenem Ergebnis in Gang gesetzt.
Zwar konnte die Pandemie zeitweise beachtliche Solidarität wecken und einzelne Berufsgruppen wie die Beschäftigten im Einzelhandel, in Pflege und Erziehung in den gesellschaftlichen Fokus rücken. Damit ist es aber nicht getan: „Entscheidender wären politische Reformen, die Menschen in prekären Lebenslagen bessere Zukunftsaussichten, mehr Teilhabechancen und größere Freiheitsspielräume ermöglichen“, schreiben die Forscher*innen.
Hinter diesen Forderungen steht das geschärfte Bewusstsein für die sozioökonomische Kluft zwischen einzelnen sozialen Gruppierungen. Auch bei den Jungen besteht die Gefahr, „dass soziale Isolation, der Verlust gemeinschaftlichen Erlebens und eingeschränkte Zukunftsoptionen die Stimmung kippen lassen und sich langfristig in Politikverdrossenheit und im schlimmsten Fall in einem (weiteren) Abdriften an die politischen Ränder manifestieren.“ Vorsicht ist auch beim Blick auf die Mittelschicht geboten: Ihr Vertrauen in Mitmenschen und Regierung ist laut Studie besonders hoch, zugleich verbucht sie wachsende Zukunftssorgen. „Das lässt erkennen, wie fragil diese Zuversicht ist.“
Die Autor*innen fordern eine offene gesellschaftliche Diskussion über eine gerechte Lastenverteilung und Reformen im Gefolge der Pandemiebewältigung: Nicht weniger als 82 Prozent der Studienteilnehmenden äußerten die Auffassung, dass die Pandemie die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels der Gesellschaft vor Augen geführt habe. So gesehen ist alles möglich: Die Gesellschaft kann im Kampf gegen die Pandemiefolgen so zusammenrücken, wie sie es zeitweise gegen das Virus getan hat, sie kann aber auch die sich abzeichnende Spaltung vertiefen.
Thorsten Brand / Robert Follmer / Jana Hölscher / Kai Unzicker, Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie. Ergebnisse einer Längsschnittstudie in Deutschland 2020 mit drei Messzeitpunkten, Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), zusammen mit infas Institut für angewandte Sozialwissenschaften GmbH, 1. Auflage 2021, 32 Seiten, Download
Gesundheit
AOK-Studie warnt vor Klimafolgen
Wohnen
Deutscher Alterssurvey: Am schönsten ist es zu Hause!
Gesundheitswesen
Studie zur Zukunft der kommunalen Krankenhäuser
Pflege
Digitalisierung: Es ist nie zu spät für neue Skills
Bildung
Lernen ohne Lehrplan: Kreativ auf dem Land
Gesellschaft
Virus wirkt als Spaltpilz: Der Zusammenhalt bröckelt
Buchempfehlung
Lothar Frenz: Wer wird überleben?
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail