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Wenn über behinderte Menschen und Inklusion diskutiert wird, dann geht es meist um schulische Bildung und rollstuhlgerechte Gebäudezugänge. Psychisch beeinträchtigte Menschen kommen in diesem Diskurs kaum vor. In der Nachbarschaft, im Verein, bei der Wohnungssuche – in vielen Alltagssituationen werden sie mit Vorbehalten und Ausgrenzung konfrontiert. Ein Modellprojekt unter Federführung der Diakonie will das ändern. Es nimmt typische Barrieren in den Blick und lässt neue Formen des Miteinanders durch Begegnung im Quartier entstehen.
„Wohnquartier und Zivilgesellschaft – Miteinander gestalten“, so der Titel des vierjährigen Projekts. Es umfasste bundesweit fünf Standorte: in Bremen, Düsseldorf, Mechterstädt (Landkreis Gotha), Stuttgart und Wetzlar.* Prof. Tim Hagemann und Prof. Rüdiger Noelle von der Fachhochschule der Diakonie Bielefeld leisteten wissenschaftliche Begleitung.
Die jeweiligen Schwerpunkte, Aufgaben und sozialräumlichen Gegebenheiten der teilnehmenden Einrichtungen erfordern maßgeschneiderte Strategien hin zu einem barrierefreien Umfeld. Einige zentrale Ziele der Modellstandorte waren bzw. sind:
In allen Modellstandorten fungierten eigens gebildete Projektbeiräte als regionale Arbeitsplattformen. Beteiligt waren Menschen mit schwerwiegenden psychischenErkrankungen, Mitarbeiter und Leitungskräfte der Trägereinrichtungen, Genesungsbegleiter, Angehörige sowie sozialräumliche Akteure aus Vereinen, Kirchengemeinden, Schulen und Selbsthilfegruppen. Auf diese Weise wurden die Modellmaßnahmen gemeinsam beraten und beschlossen. Einige Beiräte setzen auch künftig ihre Arbeit fort.
An allen Standorten kam es zu einer Vielzahl inklusiver Aktivitäten in der näheren und weiteren Nachbarschaft: Stadtteil- und Sommerfeste, Frühstücke, Malkurse, Lesungen, Theaterbesuche und Wanderungen eröffneten lebhafte Begegnungen von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Vereinzelt kam es auch zur Kontaktaufnahme mit der Lokalpolitik. Immer wieder besuchten sich Teilnehmergruppen der Modellorte zum Erfahrungsaustausch.
Zahlreiche Veranstaltungen finden mittlerweile regelmäßig statt, manche haben zur Bildung inklusiver Gruppen geführt: ein Bibelkreis (Düsseldorf), eine Tanzgruppe (Stuttgart) oder eine Nähwerkstatt (Wetzlar), um nur einige zu nennen. In mehreren Fällen ergriffen auch einzelne Akteure aus der Nachbarschaft die Initiative, gingen auf behinderte Menschen zu und bezogen sie in ihre Freizeitaktivitäten ein. Auch Anti-Stigma-Arbeit wurde großgeschrieben: Eine Schule in Hörsel führte gemeinsam mit Betroffenen ein Projekt zur seelischen Gesundheit mit den Themen Sucht, Mobbing, Suizid und Angst durch.
In den Bereichen Wohnen und Arbeit konnte Bremen punkten: Dort gelang es, den Bewohnern des teilnehmenden Heims rund ein Dutzend Wohnungen auf dem freien Markt zu vermitteln. Die eigens angebotenen „Duo-Days“, betriebliche Kurzpraktika, ermöglichten psychiatrisch beeinträchtigten Menschen erste Erfahrungen in der Arbeitswelt. In einem Fall kam es sogar zu einem längeren Beschäftigungsverhältnis.
Mit zusätzlichen Inklusionsangeboten allein ist es nicht getan. Entscheidend ist die Einstellungsänderung von Betroffenen und Nichtbetroffenen. Psychiatrisch beeinträchtigte Menschen bedürfen des Selbstvertrauens in die Gestaltungsfähigkeit des eigenen Lebens – Empowerment nennt es die Fachsprache. Dieser Personenkreis fühle sich oft überfordert zum neige zum Rückzug, erklärt Tim Hagemann: „Es ist immer eine Gratwanderung, die ausbalanciert werden muss, sowohl die Menschen zu ermutigen, stärker am Leben da draußen teilzunehmen als auch ihnen Schutzräume zu bieten. Es gilt also keineswegs pauschal: Umso mehr Inklusion und umso mehr wir uns öffnen, desto besser.“
„Viele der intendierten Aktivitäten wurden erfolgreich umgesetzt“, bilanziert Dr. Katharina Ratzke von der Diakonie Deutschland. Die Mitarbeitenden hätten von wertvollen fachlichen Impulsen berichtet, Betroffene offensichtlich Selbstwirksamkeit erlebt und die Einrichtungen neue Beziehungen im Quartier geknüpft. Anderes verlief weniger gut: „Einige Aktivitäten wurden nur von eher wenigen Betroffenen in Anspruch genommen.“ Nicht überall gelang es, die Angehörigen kontinuierlich in die Arbeit einzubeziehen, bedauert Ratzke.
Wie lassen sich Quartiersarbeit und Stadtteilentwicklung um die Perspektive von Menschen mit psychiatrischer Beeinträchtigung erweitern? Es gelte von Projektgeldern wegzukommen und eine dauerhafte Finanzierung der Quartiersarbeit sicherzustellen, die sich an alle richtet, fordert Ratzke. Mehr noch: „Zusätzlich sollten Quartierslotsen, Fachkräfte oder engagierte Betroffene, Psychiatrie-Erfahrene bei ihren Schritten ins Wohnquartier unterstützen, Brücken bauen und das Umfeld sensibilisieren. Bei der allgemeinen Quartiersarbeit sollen sie dafür sorgen, dass die Anliegen Psychiatrie-Erfahrener mitgedacht werden.“
* Die Träger der fünf Modellstandorte:
Bremen: Verein für Innere Mission in Bremen
Verbundsystem für Menschen mit psychischer Erkrankung - Bereich Psychosoziale Hilfen
Düsseldorf: Graf Recke Stiftung
Sozialpsychiatrischer Verbund - Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik
Mechterstädt: Bodelschwingh-Hof Mechterstädt e.V.
Geschäftsbereich Sozialpsychiatrie
Stuttgart: Gemeindepsychiatrisches Zentrum Stuttgart-Möhringen
Ambulante Beratung (Sozialpsychiatrischer Dienst, Gerontopsychiatrischer Dienst), Betreutes Wohnen
Wetzlar: Diakonie Lahn Dill e.V.
Teilhabezentrum in Solms-Niederbiel
Pressemeldung „Inklusion im Quartier ist möglich – Modellprojekte der Diakonie“vom 12. April 2019
Katharina Ratzke / Wolfgang Bayer / Svenja Bunt (Hg.), Inklusion für die gemeindepsychiatrische Praxis. Erfahrungen aus einem Modellprojekt, 1. Auflage 2019, Erscheinungstermin: September 2019
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