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DVA 2018, 286 Seiten, 20,- Euro , ISBN: 978-3421048110
Thomas Schulz hat fast ein Jahrzehnt als Korrespondent für den SPIEGEL aus den USA berichtet: Zunächst aus New York, vor sechs Jahren wechselte er nach San Francisco und baute dort die SPIEGEL-Redaktionsvertretung im Silicon Valley auf. Seit dem Frühjahr 2018 schreibt Thomas Schulz als Reporter über Risiken und Chancen des Fortschritts sowie über die Auswirkungen der digitalen Revolution. Vor drei Jahren erschien sein vielbeachteter Wirtschaftsbestseller „Was Google wirklich will“. Jetzt hat sich der preisgekrönte Journalist mit der Medizinrevolution beschäftigt, die aus dem Silicon Valley unaufhaltsam auf uns zukommt: Die Neuerfindung der Medizin. Die personalisierte Medizin. Die Zukunftsmedizin.
Alzheimer heilen. Den Krebs besiegen. Jahrzehnte länger leben, ohne Leid und Depression. Kein Problem. Vorausgesetzt wir träumen von einem Mikrochip im Kopf, der Krankheitssymptome lindert und Hirnfunktionen verbessert. Oder dass eine Gen-Schere - dank rasend schneller Genom-Sequenzierung – unsere Fehler im Erbgut einfach aus der DNS schneidet, noch bevor Krankheiten ausgelöst werden. Maschinen können Krankheiten wie Alzheimer und Krebs schneller, preiswerter und präziser analysieren, als es heutzutage Ärzten jemals möglich ist. Das klingt wie Science-Fiction und lange Zeit machten sogenannte medizinische Durchbrüche böse Schlagzeilen. Sie galten als unausgereift, die Wirksamkeit der Medizintechnik galt als mehr als zweifelhaft.
Mittlerweile ist dies längst Realität, schreibt Thomas Schulz und lässt in seinem beeindruckenden Buch „Zukunftsmedizin“ auch immer Raum für Fragen: Möchten wir das alles? Oder wie man in Köln sagen würde: „Wolle mer se rinlasse?“ Die Medizinrevolution. Am besten stellt man sich diese Frage, bevor man das Buch liest – und anschließend erneut. Möglicherweise fallen die Vorher-Nachher-Antworten unterschiedlich aus. Zumindest macht die Lektüre viel nachdenklicher als gedacht.
Fest steht für den langjährigen Silicon-Valley-Korrespondent: Bereits in den nächsten Jahren könnten viele Science-Fiction-Träume Wirklichkeit werden. Denn in Kalifornien wird seiner Meinung nach gerade die Medizin neu erfunden. Mithilfe von Algorithmen, künstlicher Intelligenz (KI) und Unmengen an Big Data entwickeln millionenschwere Start-ups und Konzerne wie Google, Microsoft, Apple und Co. „bahnbrechende Therapien und verblüffende neue Diagnosemöglichkeiten“. Gemeint ist zum Beispiel datenbasierte Computer-Medizin, die perfekt auf den einzelnen Patienten zugeschnitten ist und folglich unser Leben radikal verändern wird. Denn in der Region um San Francisco wird der Mensch vor allem als lösbare mathematische Rechenaufgabe gesehen, wenn es um die Entschlüsselung der Biologie geht. Riesige Datenmengen auszuwerten wird tagtäglich leichter, „da die Rechenkraft förmlich explodiert und Künstliche Intelligenz, die neue Wunderwaffe, dabei hilft“.
Thomas Schulz schreibt: „Wir stehen am Beginn gewaltiger Veränderungen, nicht nur in der Medizin, sondern in allen Bereichen unseres Lebens. Das ist meine zentrale Erkenntnis, die sich mir nach einem halben Jahrzehnt im Silicon Valley unweigerlich aufgedrängt hat. Denn wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Entwicklungen aus Jahrzehnten, an dem neue Technologien verschmelzen: Aus Chemie, Physik, Materialwissenschaften, Robotik. Im Englischen heißt das Zauberwort für das gleichzeitige Zusammenfließen und Beschleunigen, das gerne benutzt wird, um scheinbar überraschende Fortschrittsprung zu erklären: Convergence.“ (S. 14)
Thomas Schulz hat – warum auch immer – Einblicke in sonst eher verschwiegene Unternehmen und geheime Forschungslabore erhalten und hautnah miterlebt: Im Silicon Valley werden Milliarden Dollar in Unternehmen gesteckt, die mit neuen Medikamenten die Medizin revolutionieren wollen. Er hat Idealisten und Medizin-Revolutionäre der nächsten Generation besucht, keine weltfremden Spinner, sondern Topwissenschaftler wie Sebastian Thrun. Der gebürtige Solinger und Informatik-Professor gilt als Vordenker im Silicon Valley. Er promovierte in Bonn, lehrte an der Elite-Universität Stanford, entwickelte das autonome Fahren mit und ist sich sicher: Bald kann man mit dem Smartphone einen harmlosen Pigmentfleck von einem bösartigen Melanom unterscheiden. Oder Alexander Schuth, der an der Berliner Charité Medizin studiert hat und heute das Start-up Denali Therapeutics leitet. Die Firma entwickelt Gen-Therapien gegen Alzheimer und hat dafür gut ein Jahr nach Gründung 220 Millionen Dollar Investment erhalten, unter anderem von Bill Gates.
Dazu schreibt der Politikwissenschaftler Schulz: „Eine große Rolle spielt der Silicon Valley-Faktor, diese besondere Weltsicht: Fortschritt ist immer gut, morgen immer besser als heute. Die Entscheidungsfreudigkeit, einfach loszulegen, auch wenn das Risiko enorm ist. Das klingt nach kulturellen Differenzen, aber die machen einen großen Unterschied: In Deutschland kratzen Biotech-Gründer oft mühselig ein, zwei Millionen zusammen, in Kalifornien gibt es 100 Millionen oder 200, weil die Geldgeber sagen: Let’s just do it.“ Deswegen wurde das Silicon Valley zum Mittelpunkt der digitalen Revolution, und deswegen ist es auf dem Weg, auch die Revolution in der Biotechnologie anzuführen: Nicht weil hier die Forscher prinzipiell klüger und die Ideen besser wären, sondern weil hier das Geld so üppig fließt wie sonst irgendwas“ (S. 36).
Die medizinische Zukunft, die der Fulbright-Stipendiat Schulz akribisch recherchiert hat, geht in jedem Fall weg von breiten Behandlungsansätzen mit Chemo-Hammer und Strahlentherapie wie bisher bei Krebsbehandlungen. Krebs gilt als „König aller Krankheiten“, jährlich sterben fast zehn Millionen Menschen weltweit daran. Es ist bisher unfassbar schwer, das unkontrollierte Tumorwachstum zu stoppen, ohne gesunde Zellen mit zu töten. Führende Onkologen der Welt können gar nicht schnell genug an neuen Instrumenten für die digitale Datenmedizin arbeiten, schreibt Thomas Schulz: Der neue Weg ist die „wirklich personalisierte Medizin, mit auf den einzelnen Menschen zugeschnittenen Therapien, die auf der Analyse des Erbguts und anderer individueller Daten beruhen“. Der Arzt wird zum „Gesundheitscoach“ und zum „Datenmanager“.
Vor allem Krebs ist zum weltweiten Innovationszentrum der Medizin geworden, weiß Thomas Schulz, der in der Harvard University als Gastwissenschaftler über das Zusammenspiel von Globalisierung und Digitalisierung geforscht hat. Der frühere US-Präsident Barack Obama hat in seiner letzten Rede zur Lage der Nation 2016 „sein“ Land dazu aufgefordert, sich an einem „Cancer Moonshot“ zu versuchen: Die Krebsforschung derart zu beschleunigen, das in wenigen Jahren der Fortschritt von Jahrzehnten erreicht wird (S. 157). Angela Merkel ließ sich auf dem jährlichen Digital-Gipfel sogar zu der Aussage hinreißen, digitale Lösungen für die Gesundheitsversorgung bieten „sehr viel mehr Chancen als Risiken“ (S.271).
Im Zentrum aller Hoffnungen steht vor allem die Immun-Onkologie. Spannend beschreibt Thomas Schulz, dass zu den radikalsten der zahlreichen neuen Ansätze die futuristische CAR-T-Therapie gehört (Chimeric Antigen Receptor-T-Zellen), bei der dem Patienten eigene T-Zellen injiziert werden, nachdem sie im Labor zielgerichtet aufgerüstet wurden, um sie auf den Tumor loszulassen. „Genmodifizierte Killerzellen, von Menschenhand im Labor geschaffen.“ Drei Terabyte genetische Daten für so eine Diagnose zielgerichtet zu analysieren ist aufwendig, folglich geht ohne Software-Unterstützung in den Kliniken längst nichts mehr.
Erste Medikamente wurden bereits im Eilverfahren zugelassen, damit die neue Technologie denen helfen kann, bei denen keine andere Therapie wirksam war. Die erste im Herbst 2017 zugelassene zellbasierte Krebsbehandlung kostete etwa eine halbe Millionen Dollar pro Patient. Die Visionen klingen vielversprechend, zitiert Thomas Schulz den Cellectis-Chef André Choulika (S.171): Universelle Krebszellen könnten, genetisch programmiert, jeden Krebs attackieren. Aus jeder Blutspende ließen sich genügend Zellen ernten, um daraus Hunderte Dosierungen zu machen. Wenn aber Medikamente kein Massenprodukt mehr sind, sondern künftig personalisiert eingesetzt werden, ist es komplizierter und aufwändiger sie zu gewinnen. Zwangsläufig entstehen andere Kosten für Patienten, andere Gewinne für Hersteller.
„Wenn wir über die Zukunft der medizinischen Forschung sprechen, dann reden wir sicher mehr über Apple und IBM als über Lilly und Pfizer“, analysiert der Neurowissenschaftler und Psychiater Tom Insel. Der ehemalige Leiter der Forschungsförderanstalt National Institute of Menthal Health (NIH) arbeitet inzwischen für Verily, das Medizinforschungsunternehmen von Google, das unsere Gesundheit mit ihren gesammelten Daten künftig ständig vermessen und optimieren will. Microsoft hat ebenfalls bereits eine eigene KI-unterstützte Datenbank mit medizinischen Studien aufgebaut, die Ärzte für ihre Diagnosen nutzen dürfen. Neben großen Pharmafirmen forschen und verdienen somit vor allem die milliardenschweren Technologiegiganten der US-Westküste mit.
Sicher ist: Die digitale Datenmedizin bringt große Veränderungen für die Gesundheitssysteme, nicht in weiter Ferne, sondern jetzt. Die Ära der personalisierten Medizin hat bereits begonnen. Thomas Schulz skizziert unglaublich aktuell, extrem gut recherchiert und sehr lesenswert die Chancen und Risiken dieser Medizinrevolution. Spannend und beängstigend zugleich zeichnet der Autor nach, welche neuen Therapien demnächst verfügbar sein könnten und wie sich Gesunde, Ärzte und Patienten vorbereiten sollten. Fest steht für Thomas Schulz: Deutschland „hinkt in einem so zentralen Zukunftsfeld so hinterher“ (S.271).
Immerhin: Seit Januar 2018 bauen vier Konsortien – bestehend aus 17 Uni-Kliniken und gut 40 Partnern – bis zum Beginn des nächsten Jahrzehnts sogenannte Datenintegrationszentren auf, damit sich Mediziner aller Sparten vernetzen können. Manchen Fragen muss man nach der Lektüre selbst nachgehen: Was passiert mit einer Gesellschaft, in der genetische Unzulänglichkeiten getilgt werden können? Was ist mit dem Schutz der Patientendaten? Wollen wir das überhaupt? „Daten preisgeben, im Tausch gegen das Versprechen einer besseren medizinischen Versorgung, einer besseren Gesundheit.“ (S.273)
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