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Die einen reden von verblühenden Landschaften, lamentieren über den Abschwung Ost und warnen vor enttäuschten Wutbürgern. Die anderen lassen sich von solchen Klischees nicht abschrecken und verwirklichen ihre Ideen neuen Arbeitens und Zusammenlebens auf dem Land. Sie versorgen Mitbewohner mit Ökostrom, ziehen mit ihrem Moortheater übers Land oder verwandeln ein verwaistes Dorf in eine Besucherattraktion. Vielerorts zeigen diese „Neulandgewinner“ oder „Raumpioniere“, wie ländliches Leben in Zukunft aussehen könnte.
Die Robert Bosch Stiftung fördert solche Initiativen seit 2012 mit dem Programm „Neulandgewinner. Zukunft erfinden vor Ort“. Kürzlich startete die vierte Förderrunde. 20 ausgewählte Engagierte erhalten Schulungen, werden von Mentoren begleitet und mit jeweils bis zu 50.000 Euro unterstützt. Im Gespräch mit der Trendinfo-Redaktion erläutern Projektleiterin Sylvia Hirsch und Dr. Babette Scurrell vom Verein „Neuland gewinnen“ das Gesamtprojekt.
Was macht Menschen zu Neulandgewinnern?
Sylvia Hirsch:Neulandgewinnerinnen und Neulandgewinner sind Menschen, die sich nicht mit eingefahrenen Stereotypen über Provinz und Ostdeutschland abfinden wollen. Das sind Einheimische genauso wie Zugereiste, die das Leben auf dem Land schätzen gelernt haben. Sie begreifen den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel als Chance. Und das Wichtigste: Sie können andere für ihre Ideen begeistern und sind Impulsgeber für die ganze Region.
Dr. Babette Scurrell: Sie haben ein persönliches Interesse an gesellschaftlicher Entwicklung. Ihr politisches Engagement funktioniert als praktische Lebenshilfe in ihren Wohnorten und -regionen. Sie haben Teamgeist, obwohl sie eigensinnig sind. Sie schaffen gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer lebendigen Demokratie.
Warum beschränkt sich das Programm auf Ostdeutschland?
Sylvia Hirsch: Als die Stiftung vor rund acht Jahren mit der Programmentwicklung begann, war die Idee, besonders strukturschwache Regionen Deutschlands zu unterstützen – damals noch im Kontext des demografischen Wandels. Der ländliche Raum Ostdeutschlands ist davon stark betroffen, zudem wurde uns bei der Recherche klar, dass es kaum Stiftungen gibt, die dort fördern, und wir mit unserem Förderansatz einen echten Unterschied machen können.
Schlagzeilen über Ostdeutschland sind oft negativ, kreisen um Themen von „abgehängt“ bis Rechtspopulismus. Will die Robert Bosch Stiftung diesem Image entgegenwirken?
Sylvia Hirsch: Uns ging es darum, andere Geschichten zu erzählen. Die Geschichten von den Unbeirrbaren, von den Macherinnen und Pionieren im ländlichen Raum Ostdeutschlands. Unser Ziel war, die Schweinwerfer auf eben diese Menschen zu richten, sie sichtbar zu machen und ihnen Gehör zu verschaffen.
Das Programm hat bisher rund 80 „Raumpioniere“ gefördert: Welche Erkenntnis ziehen Sie aus dem bisherigen Verlauf?
Sylvia Hirsch: Viele Wege führen zum Ziel! Im Kern geht es darum, die Gemeinschaft vor Ort zu stärken. Menschen zum Mittun zu bewegen und ihnen zu zeigen, dass man die Dinge selbst in die Hand nehmen kann. Wir sind überzeugt, dass sie bessere Lösungen für die Probleme vor Ort haben als ein außenstehender Fördermittelgeber. Deshalb ist unsere Förderung auch thematisch offen.
Dr. Babette Scurrell: Es gibt so viele großartige Menschen! Nicht nur die geförderten Neulandgewinner, sondern auch viele der Bewerber und Partner der Neulandgewinner sind eine starke demokratische Kraft. Ihre Solidarität, ihr Wissen, ihre Erfahrungen sollten die politischen Akteure aller Ebenen aufgreifen und unterstützen. Die Gesellschaft der Zukunft wird nicht in Parlamenten und Think Tanks entstehen, sondern im experimentellen Handeln der Akteure entwickelt.
Die Menschen werden offenbar dort aktiv, wo die Umbrüche der vergangenen 30 Jahre besonders tiefe Wunden geschlagen haben. Spiegelt sich das in den Projekten wider?
Sylvia Hirsch: Die Frage ist doch eher, welche Menschen dort aktiv werden. Und das sind unserer Erfahrung nach immer Menschen, die in ihrem Leben eines erleben oder lernen konnten: Selbstwirksamkeit. Unsere Neulandgewinner sind ein ziemlich bunter Haufen zwischen 25 und 80 Jahren, etwas mehr Frauen als Männer, mit sehr unterschiedlichen Biographien und in der Regel sehr gut ausgebildet.
Konnten einzelne Projekte auch Rückkehrer und Zuzügler anlocken?
Sylvia Hirsch: Das ist zwar kein primäres Programmziel, doch einige Neulandgewinner haben sich das durchaus zur Aufgabe gemacht. Dazu gehören Stefanie Auras-Lehmann aus Finsterwalde mit der Rückkehrinitiative „Comeback Elbe-Elster“ und Jan Hufenbach mit der Raumpionierstation Oberlausitz. In beiden Fällen gelingt es, die Region für Rückkehrer/-innen und Zuzügler-innen aus den umliegenden Ballungszentren zu gewinnen.
Ist nicht jedes einzelne Projekt auch ein Hinweis auf unterlassene Hilfe staatlicher Instanzen?
Dr. Babette Scurrell:Diese Formulierung macht die Antwort schwierig. Ja, der Staat hat sich fälschlicherweise von bestimmten Aufgaben und aus einigen Räumen zurückgezogen, hat seine Kapazitäten und Kompetenzen zur Erfüllung einiger staatlicher Aufgaben aufgegeben oder verloren. Aber mit der Veränderung der sozio-ökonomischen und sozial-ökologischen Entwicklungsbedingungen besteht seit mindestens 40 Jahren die Herausforderung, das Verhältnis von Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat neu zu gestalten. Dass sich manche ostdeutschen Landesregierungen auf die Zusammenarbeit im Programm eingelassen haben, belegt, dass sie selbst nach neuen Lösungen suchen.
Können Sie Beispiele für zukunftsgerichtete Lösungen nennen?
Dr. Babette Scurrell:Dazu gehört etwa das Projekt der „Knotenorte“ in der Peeneregion, das Unternehmen, Gemeinden, Vereine, Landwirte und andere Beteiligte vernetzt, um regionale Aktivitäten zur Belebung des gesellschaftlichen Lebens zu bündeln und damit die gesamte Region attraktiver zu machen. Es macht ein Entwicklungsprinzip „von unten“ deutlich: die Rolle der lokalen Akteure selbst kleinster Dörfer für die Entfaltung endogener Potenziale, das von der Regionalplanungsbehörde in Vorpommern aufgegriffen wurde.
Weitere Beispiele unter vielen sind der Szene-Kulturführer „Plan B“ in Görlitz, der inzwischen vom Touristikamt der Stadt nachgedruckt wurde, der Demokratiebahnhof Anklam mit der Gründung eines Jugendparlaments sowie die erfolgreiche Entwicklung der „Engagierten Stadt Stendal“.
Welches ist Ihr Lieblingsprojekt?
Sylvia Hirsch: Das eine Lieblingsprojekt gibt es nicht. Wie oft im Engagementbereich handelt es sich für die Neulangewinner um Herzensprojekte, in die sie viel Kraft, Zeit und Liebe stecken. Wer diese positive Energie spüren möchte, kommt am besten zu einer unserer Netzwerkveranstaltungen, die für alle Interessierten offen stehen. (Termine: www.neulandgewinner.de)
Robert Bosch Stiftung, Thünen-Institut für Regionalentwicklung (Hg.),
Neulandgewinner – Programmhandbuch 2013-2021, 2019 (98 Seiten)
www.bosch-stiftung.de/de/publikation/neulandgewinner-programmhandbuch-2013-2021
Projektseite „Neulandgewinner. Zukunft erfinden vor Ort“:
www.neulandgewinner.de
Siri Frech / Babette Scurrell / Andreas Willisch / Lukas Beckmann u. a., Neuland gewinnen: Die Zukunft in Ostdeutschland gestalten, Ch. Links Verlag, 2017, 272 Seiten, 25,- Euro
ISBN: 978-3-86153-949-0
Demografie
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