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Was mancher Kritiker für eine schöne Illusion hält, ist an der Martinschule in Greifswald gelebter Alltag – das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung. Dieses Inklusionsmodell gefiel den Juroren des Deutschen Schulpreises so gut, dass sie der Schule den mit 100.000 Euro dotierten Hauptpreis zuerkannten. Inklusion bedeutet gemeinhin, Regelschulen für Menschen mit Behinderung zu öffnen, in Greifswald hingegen geht man den Weg umgekehrter Inklusion: Die Martinschule unterrichtete anfangs ausschließlich Kinder mit geistiger Behinderung, ehe sie auch Schüler ohne Handicap aufnahm. Ein mutiger Ansatz, der funktioniert.
Außer dem Evangelischen Schulzentrum Martinschule wurden fünf weitere Schulen für ihre vorbildlichen Lernkonzepte prämiert. Preise von je 25.000 Euro gingen an das Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium in Münster, die Matthias-Claudius-Schule in Bochum, die Gesamtschule Bremen Ost, die Franz-Leuninger-Schule in Mengerskirchen (Hessen) und die Integrierte Gesamtschule Hannover-List. Der Deutsche Schulpreis ist ein Projekt der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung in Berlin. Beide Initiativen haben jetzt das Deutsche Schulportal gestartet (deutsches-schulportal.de), ein Fachmedium für Themen rund um Schulpraxis, Bildungspolitik und Wissenschaft.
Die Martinschule, vor 26 Jahren als „Schule für Geistigbehinderte“ gegründet, entwickelte sich schrittweise zu einem inklusiven Schulzentrum – bestehend aus einer Schule zur individuellen Lebensbewältigung, einer Grundschule mit Hort und einer Integrierten Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe. „Heute haben hier fast 50 Prozent der 553 Schülerinnen und Schüler sonderpädagogischen oder pädagogischen Förderbedarf“ – das ist bundesweit einzigartig“, sagt Schulleiter Benjamin Skladny (56) im Gespräch mit der Trendinfo-Redaktion.
Einige sind schwer- und mehrfachbehindert, kommen im Rollstuhl und können kaum sprechen, andere haben kleinere oder größere Schwierigkeiten im emotional- sozialen Bereich, haben autistische Züge und sitzen kaum still. Die zweite Hälfte der Schülerschaft hat keine Behinderung und wird die Berufliche Reife, die Mittlere Reife oder das Abitur ablegen. Welche Schule schafft es, eine derart heterogene Schülerschaft zum Abschluss zu führen?
In den ersten vier Schuljahren lernen die Kinder im gemischten Klassenverband, in den folgenden drei Jahrgangsstufen in sogenannten Stammgruppen. Dort beginnt der Schulalltag regelmäßig mit einem Morgenkreis. Lehrer und Schüler legen das Thema für den Tag fest und treffen individuelle Zielvereinbarungen. Anschließend suchen die Kinder eine zu ihnen passende Lerngruppe auf, wo sie alleine oder im Austausch mit anderen ihr Pensum erledigen. Jedes Kind hat einen Stammlehrer als Bezugsperson. Er kennt die persönliche und schulische Entwicklung seines Schützlings, hilft, lehrt und ermutigt. Fördern statt Sitzenbleiben, individuelle Rückmeldungen, Portfolio-Arbeit und regelmäßige Feedbackgespräche zwischen Schülern und Lehrern statt Noten – personalisiertes und vor allem dialogisches Lernen heißt die Erfolgsformel.
„Klingt einfach, ist tatsächlich aber schwer“, sagt Skladny. Eine Voraussetzung für gelingende Inklusion ist ein angemessener Betreuungsschlüssel. In Greifswald kümmern sich multiprofessionelle Teams mit bis zu fünf Fachkräften um die Schüler: Lehrer, Inklusionshelfer, Erzieher, Sonderpädagogen, insgesamt rund 150 Profis. „Das Ganze funktioniert nur dank des überdurchschnittlichen Engagements unserer Lehrkräfte.“ Das anspruchsvolle Konzept und seine Weiterentwicklung führen zu zeitaufwändigen Diskussionen und manchem Widerspruch im Kollegium. Schwierige pädagogische Alltagssituationen machen bisweilen auch den Profis ihre Grenzen bewusst. Klar ist aber auch: „Kein Schüler wird als Problemfall abgestempelt, sondern als lernender Mensch behandelt, für den eine individuelle Lösung gefunden werden muss.“
In den oberen Jahrgängen geht es derzeit noch im Klassenverband weiter, bestimmen vor allem die nahenden Schulabschlüsse und die Übergänge zur Zeit nach dem Schulende die Unterrichtsplanung. Zusätzlich bereitet ein jahrgangsübergreifendes Lernangebot die Jugendlichen der Abschlussstufe auf den späteren Berufseinstieg vor. In der Schülerfirma „Häppchen & Co.“ lernen sie u.a. den Umgang mit Lebensmitteln und Geld, im Projekt „Wohntraining“ üben sie in einer angemieteten Wohnung erste Schritte in die Selbstständigkeit. Im „Abschlussstufenzentrum“ in einer umgebauten ehemaligen Kaufhalle findet u.a. das Bewerbungstraining statt, werden für jeden Schüler vielfältige Praktikumsplätze gesucht.
Mit den Ergebnissen in den zentralen Abiturklausuren und der Mittleren Reife sind die Martinschüler besser als der Landesdurchschnitt von Mecklenburg-Vorpommern. Im vergangenen Schuljahr bestand erstmals eine Schülerin das Abitur mit der Note 1,0. Jeder Schüler und jede Schülerin verlässt die Martinschule mit einem Abschluss, Jugendliche mit Handicap bekommen einen schulinternen Abschluss.
Hinter allem Erreichten an der Martinschule steht „der unbedingte Wille, das ,Anderssein’ der Kinder und Jugendlichen radikal zu akzeptieren und wertzuschätzen“, heißt es in der Laudatio zur Preisverleihung. Skladny, der von Anfang an dabei war, schon damals, als noch Bezeichnungen wie Sonder- und Behindertenschule vorherrschten, kann die Irrwege der aktuellen Inklusionsdebatte nicht recht verstehen. Er bedauert, dass Bildung hierzulande „generell keinen hohen Stellenwert“ besitze und die Finanzminister meist das letzte Wort hätten. Speziell Inklusion werde oft als „Reinquetschen von Kindern mit Behinderungen in ein System verstanden, das auf diese Kinder (noch) gar nicht vorbereitet ist: Das kann nicht funktionieren.“ Mehr noch: „Inklusion bedeutet für uns, dass sich jedes Kind in seinem Tempo mit seinen Interessen, Stärken und Fähigkeiten individuell weiterentwickeln und in einer Gemeinschaft mit anderen lernen und leben kann, aus der es nicht ausgeschlossen wird.“ Sein Credo für die Martinschule: „Wir unterrichten keine Fächer, sondern Menschen.“
Deutscher Schulpreis – mehr als diese von Insidern als „Schul-Oscar“ titulierte Trophäe geht nicht. Das Preisgeld dürfte einiges ins Rollen bringen, Skladny hat noch ein paar Ideen zum Ausbau der Schule parat. Eine dringend benötigte eigene Turnhalle, eine Kindertagesstätte, ein Schullandheim stehen auf seinem Wunschzettel. Nichts ist unmöglich – die Martinschule hat Erfahrung darin, ganz eigene Wege zu einer guten Schule zu gehen.
Weitere Informationen
www.deutscher-schulpreis.de
https://odebrecht-stiftung.de
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