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Beleidigungen, Hetze und Drohungen gegen Politiker*innen nehmen zu. Bereits einige Bürgermeister*innen haben ihren Posten geräumt, manche wollen nicht erneut kandidieren – weil sie sich und ihre Familie schützen müssen und ihnen die gesellschaftliche Unterstützung fehlt. Eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung greift die Gewalterfahrungen von ehrenamtlichen Kommunalpolitiker*innen aufgrund von 50 Einzelinterviews auf.
Das Thema bedrohter Kommunalpolitiker*innen ruft in letzter Zeit verstärkt Wissenschaft und Politik auf den Plan. Ein gefährliches Klima habe Rathäuser, Parlamente und Internetforen erreicht, warnte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier 2020 vor 150 Amtsträgern: „Ein Klima der Empörung und Enthemmung, ein Klima der Herabsetzung und Hetze.“ Niemand dürfe wegschauen.
Große Beachtung fanden mehrere Erhebungen der Zeitschrift „Kommunal“ im Auftrag des ARD-Politmagazins report München. 2019 waren demnach 41 Prozent der BürgermeisterInnen hierzulande beleidigt, beschimpft, bedroht oder sogar tätlich angegriffen worden. 2020 waren es schon 64 Prozent, 2021 bislang 72 Prozent (Erhebung April). Auch die Attacken gegen weitere Amtsträger*innen und Mitarbeiter*innen kommunaler Einrichtungen nahmen zu.
„Kommunal“-Chefredakteur Christian Erhardt zeigt gegenüber der Trendinfo-Redaktion eine besorgniserregende Entwicklung auf: „2016, im Gefolge der Flüchtlingspolitik, tobten sich Hass und Hetze im Internet aus. 2019 traten die Verbalattacken aus der Anonymität heraus und äußerten sich in persönlichen Pöbeleien. 2020 verzeichneten wir einen massiven Anstieg körperlicher Angriffe.“ Inzwischen sei die Corona-Pandemie Treiber „von noch mehr Hass und Gewalt“.
Die Hasswelle hat längst auch kleinere Städte und Gemeinden erreicht, zeigt jetzt die Böll-Studie mit ihrem Fokus auf ehrenamtlichen Politiker*innen. Damit trifft es Politiker*innen, die in engem Kontakt zum Bürger stehen. Fast alle wurden schon einmal wegen ihres politischen Engagements beleidigt, die Hälfte berichtete von Bedrohungen, ein Drittel von tätlichen Übergriffen.
„Im Leben vieler Ehrenamtlicher verschmilzt Politisches mit Privatem, da die politische Aktivität häufig im eigenen Heim ausgeübt wird“, beschreibt die Studie ein Charakteristikum der Amtsführung. Anfeindungen dringen ungeschützt in das Privat- und Familienleben der Politiker*innen, was als besonders belastend empfunden wird. Dass die Betroffenen deswegen ihr Amt niederlegen, komme bisher nur selten vor. „Dennoch handelt es sich um ein ernstzunehmendes Problem, da die Kommunalpolitik ganz wesentlich auf die Tätigkeit der Ehrenamtlichen angewiesen ist.“ Angriffe gegen sie unterminierten die Demokratie, schlussfolgern die Autor*innen.
„Ehrenamtliche Politikerinnen und Politiker dürfen nicht alleine gelassen werden“, fordert Mitautor Sebastian Bukow. Dazu entwirft die Studie einen Dreiklang aus individuellen, institutionellen und rechtlichen Ansätzen gegen politisch motivierte Bedrohungen.
Die beschriebenen Ansätze gegen Hetze und Gewalt dürfen eine breite Diskussion über deren Ursachen nicht ausblenden, so die Studienautor*innen. Als zentralen Grund nennen die befragten Kommunalpolitiker*innen die gesellschaftliche Polarisierung, verbunden mit abnehmender Kompromissbereitschaft und einem raueren Umgang. „Ganz konkret werden häufig die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas mit dem Eintritt der AfD in die Politik in Verbindung gebracht.“
Demgegenüber gelte es das Bewusstsein zu schärfen, dass Demokratie kommunales Engagement brauche. Auf einer noch zu schaffenden bundesweiten Online-Plattform für Gewalterfahrungen in der Kommunalpolitikkönnten Betroffene ihre Erfahrungen austauschen und Gegenstrategien entwickeln. Eine Aufklärungskampagne über das kommunalpolitische Ehrenamt könnte Unwissen beseitigen helfen. Oft sei nicht bekannt, dass Lokalpolitik von Ehrenamtlern direkt aus der Nachbarschaft getragen werde, nicht von üppig bezahlten Vertretern der „politischen Klasse“.
Selina Alin / Sebastian Bukow / Jana Faus u.a.,
Beleidigt und bedroht: Arbeitsbedingungen und Gewalterfahrungen von Ratsmitgliedern in Deutschland, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Schriften zur Demokratie, Band 59, Berlin, 68 Seiten
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Kommunal exklusiv, Attacken auf Kommunalpolitiker in der Corona-Pandemie weiter gestiegen (27.04.2021), in: kommunal.de
Ein Film der Körber-Stiftung, „Angriffe auf die Kommunalpolitik. Hass und Gewalt entgegentreten“, umfasst Hintergrundinformationen und Hilfsangebote
Das Bundesnetzwerk bürgerschaftliches Engagement (BBE) setzt in seinem Newsletter Nr. 6 vom 18.03.2021 einen Schwerpunkt in der Arbeit ehrenamtlicher Bürgermeister*innen und in der Gewaltthematik.
Britta Bannenberg /Tim Pfeiffer / Dominik Erb,
Gewalt gegen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Hessen,
Justus-Liebig-Universität, Gießen 2021, Download
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