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Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen
Ullstein Verlag, München 2021, 144 Seiten, 12,00 Euro.
Jutta Allmendinger hat eine beispiellose Karriere gemacht. Sie ist als erste Frau seit 13 Jahren Präsidentin des weltweit angesehenen Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Die Soziologieprofessorin prägt die gesellschaftliche Debatte mit wegweisenden Beiträgen zu den Themen Gleichberechtigung und Bildungsgerechtigkeit. Ihre aktuelle Streitschrift „Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen“ ist eine Art Fazit ihrer Arbeit. Jutta Allmendinger fordert nicht nur ein anderes Elternzeitmodell, sondern kommt darüber hinaus zu dem Schluss: „Die Pandemie wirft Frauen um drei Jahrzehnte zurück, und das kann man nicht einfach wieder aufholen.“
Durch Corona hat sich gezeigt: Vor allem die Mütter sind für Jutta Allmendinger die Verliererinnen. Sie arbeiten und versorgen gleichzeitig die Kinder, werden immer noch schlechter bezahlt, und Teilzeit und Elternzeit sind weitgehend Frauensache. Das belegen die während der Pandemie erhobenen Daten eindeutig: Die aktuelle Rollenverteilung zwischen Müttern und Vätern entspricht der Generation der Eltern und Großeltern. Diese Tatsache ist für die Soziologieprofessorin alarmierend, weil sie gesellschaftlichen Sprengstoff berge: Es sei entsetzlich, dass sich während der Corona-Krise überwiegend Mütter vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, um sich – wie in alten Zeiten – im Homeoffice verstärkt um Kinder und Küche zu kümmern.
Vor allem Mütter erleben die Rückkehr zur traditionellen Arbeitsteilung als eine entsetzlich schmerzhafte Re-Traditionalisierung, wie Jutta Allmendinger es nennt. Eigentlich findet sie das Wort „Re-Traditionalisierung“ noch viel zu nett, „weil ich mich „zurückgestupst fühle in eine Welt, wo alles wunderbar und hellblau am Himmel ist und eine Person kommt durch ihre Erwerbstätigkeit für den gesamten Haushalt auf. So ist unser Sozialsystem gestrickt“, sagt Jutta Allmendinger im Skype-Gespräch mit unserer Autorin. „Jetzt haben wir wieder genau die Situation: Schulen und Kitas sind zurückgefahren, und auf die Frauen kommt die Hauptverantwortung zu.“
Für Jutta Allmendinger wollen aber gerade junge Frauen umsetzen, was sie gelernt haben, und sie wollen finanziell unabhängig sein. Auch deswegen nennt die Professorin es Re-Traditionalisierung: „Die Frauen sind mit ihrer Sorgearbeit nochmal höher gegangen. Die Männer haben zwar auch ein bisschen zugelegt, aber nicht im Sinne dessen, dass sie die Verantwortung haben, das schreibe ich sehr deutlich in meinem Buch: Lange Verantwortung lässt sich gar nicht in Stunden messen.“
Ihre Argumente belegt die Soziologin mit empirischen Daten: Bereits vor der Krise arbeiteten 95 Prozent aller Männer mit minderjährigen Kindern in Vollzeit und über 75 Prozent der Mütter in jahrzehntelanger Teilzeit. Das funktionierte für Jutta Allmendinger nur, weil die Kinder verlässlich beschult und oder in Kitas betreut wurden. Brechen diese Infrastrukturen Corona-bedingt weg, ziehen sich diese Frauen oftmals ganz vom Arbeitsmarkt zurück, während Väter selbst während der Kurzarbeit voll im Arbeitsleben bleiben, schreibt die Autorin. Homeoffice ist für Jutta Allmendinger alles andere als geschlechterneutral und sorgt für eine ganze Bandbreite von Geschlechterungerechtigkeiten.
Die Soziologin beschreibt in „Es geht nur gemeinsam!“, was sie selbst als gut ausgebildete junge Frau erlebt hat. „Der Mann sagte zu mir: Wenn ich auf Teilzeit gehe, sinkt das Haushaltseinkommen viel mehr, als wenn du auf eine Halbtagsstelle runtergehst, das verkraften wir viel leichter.“ Männer gehen nach der Geburt eines Kindes sogar noch höher in ihrer Arbeitszeit, während Frauen dramatisch nach unten sinken: „Sie halbieren ihre Arbeitszeit und darauf reagiert die Wirtschaft wie so ein bösartiger Fisch, weil man in Teilzeit keine Karriere macht, nicht in Führungspositionen hineinkommt und folglich auch weniger Rentenpunkte sammelt. Das Ganze ist nicht nur kulturell, sondern auch strukturell irgendwo verankert“, analysiert Jutta Allmendinger.
Durch lebensnahe und provokante Thesen hat sich die Professorin einen Namen gemacht, prägte Begriffe wie „Bildungsarmut“ und ist auch in der Politik eine gefragte Gesprächspartnerin. Als Studentin überlebte sie eine schwere Krankheit und machte ihren Abschluss in Harvard. Später wurde sie als junge Professorin ausgebuht, weil sie ihr neugeborenes Baby mit in die Vorlesung brachte. Aktuell kritisiert Jutta Allmendinger, dass schon vor der Corona-Krise der Diskurs darüber vermieden wurde, in welcher Welt Frauen und Männer überhaupt gemeinsam leben wollen. Mittlerweile sei die Belastung von Frauen durch unbezahlte Arbeit noch höher als vor Corona.
Im Grunde ist für die Soziologin der Dreh- und Angelpunkt, wie die unbezahlte Arbeit gerechter aufgeteilt wird. „Spreche ich über ,Gender Care Gap‘, also die Zeitlücke von Männern und Frauen für unbezahlte Hausarbeit und Kinderbetreuung oder über ,Gender Pay Gap‘, den Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen, stellt sich die Frage: Was ist die Zielmarge? Dass Frauen und Männer Vollzeit durcharbeiten über ihr ganzes Leben? Das wird kaum möglich sein. Oder sollen beide auf einem Vierfünftel- oder Dreifünftel-Niveau arbeiten und auch die unbezahlte Arbeit wird zusammengelegt, und zwar für Männer und für Frauen ungefähr gleich. Das ist das Ziel, welches ich anstreben würde, was aber natürlich gesellschaftlich diskutiert werden muss.“
Was die Soziologin aber wirklich spürbar verärgert: „Man ist blind und alle Berechnungen, die wir über Ungleichheit machen zwischen den Geschlechtern, zielt einzig darauf, dass Männer sich nicht ändern und Frauen wie Männer werden. Gerade Frauen, die ihr Leben sowieso schon mehr und mehr und mehr nach dem der Männer richten, sollen jetzt ganz wie Männer werden. Das ist für mich der falsche Weg.“
Die Ursachen dafür, dass insbesondere Mütter die Verliererinnen der Pandemie-Politik sind, liegen für die Autorin weit zurück. Während in Österreich das Ehegattensplitting längst abgeschafft wurde, sei es in Deutschland „wie in Zement gegossen“. Jutta Allmendinger erläutert eindrücklich, dass steuerlich die sogenannte Hausfrauen- oder Versorger-Ehe subventioniert werde. Der Heiratsmarkt lohne sich mehr als der Arbeitsmarkt. „Traditionen sind schwer zu verändern, oft sind externe Schocks wie Corona geradezu nötig und hilfreich“, schreibt Jutta Allmendinger.
Für die Soziologin wäre es wegweisend, dass Frauen von der häuslichen Arbeit, die sie ja leisten, „dauerhaft anständig leben können – auch im Fall einer Scheidung“. Deshalb sei es ihrer Meinung „extrem wichtig, Tarifierungen zu ändern“. Ihre Studien belegen etwas scheinbar Banales: Wenn Männer in Frauenberufe gehen, wird dieser Beruf über die Männer aufgewertet. „Gehen Frauen in Männerberufe, wertet sich dieser Beruf interessanterweise oder zum Schrecken, muss ich sagen, ab.“
Erschreckend findet die Autorin auch die Unterschiede in der Altersrente, die bei Frauen knapp halb so hoch wie die bei Männern. „Das ergibt sich durch die Kumulation von Teilzeiterwerbstätigkeiten und Arbeitszeitunterbrechungen“, so Jutta Allmendinger. „Wenn ich als Rentnerin 20 Jahre lang mit wirklich wenig Geld oder sogar mit staatlichen Zuschüssen leben müsste, nachdem ich ein ganzes Leben für Kinder, Mann, Haushalt, Familie und den Beruf gearbeitet habe, fände ich das zutiefst unfair.“
Am Ende ihres Buchs beschreibt Jutta Allmendinger überraschend versöhnlich ihre Idee von einem neuen Elternzeitmodell: Mehr Vätermonate in der Betreuung von Kindern. Mehr Anreize für Männer, ihre Erwerbsarbeit zu reduzieren. Eine höhere Tarifierung für Tätigkeiten, die meist von Frauen ausgeübt werden – damit sich beide Partner sowohl zu Hause als auch im Beruf auf Augenhöhe begegnen können. „Dieses Buch war ein bisschen ungeplant“, sagt Jutta Allmendinger, „weil mir die Hutschnur geplatzt ist, was selten der Fall ist, und zwar aufgrund dieses ja schon fast unglaublichen Sexismus, der in der Selbstverständlichkeit der Rollenübernahmen von Frauen herrschte. Es hat mich überrascht, wie sehr Frauen immer mehr über die Jahrzehnte Männerrollen angenommen haben und wie selbstverständlich man davon ausgeht, dass sie, um eine Gleichstellung zu erreichen, wie Männer werden müssen.“
„Es geht nur gemeinsam!“ ist eine kurzweilige und überaus motivierende Streitschrift. Ganz ohne Soziologen-Kauderwelsch kombiniert Jutta Allmendinger erstmals ihre Forschungsergebnisse sehr persönlich und sehr offen mit ihrer Berufsbiographie und ihrer eigenen Familiengeschichte. Sie schreibt über ihren eigenen Werdegang als Wissenschaftlerin und Mutter, erinnert sich an die Lebenswege ihrer Großmutter und Mutter – und überlegt, wie es wohl einer zukünftigen, fiktiven Enkeltochter ergehen könnte. Das animiert beim Lesen, die eigene Lebens- und Arbeitsbiographie gedanklich mit einfließen zu lassen. Die Autorin zeigt nicht nur Perspektiven auf, wie es zwischen Frauen und Männern gerechter zugehen könnte. Darüber hinaus sei auch die Politik gefragt, eine klare familien- und arbeitsmarktpolitische Ausrichtung zu entwickeln – denn letztendlich geht es nur gemeinsam.
Weiterführende Links:
Deutschlandfunk
WDR
NDR
(alle abgerufen am 07.04.2021)
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