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Ullstein Verlag 2020, 450 Seiten, 29,99 Euro.
Nadav Eyal (40) aus Tel Aviv ist internationaler Chef-Korrespondent des israelischen Channel 13, einem der größeren Privatfernsehprogramme des Landes. Als einer der bekanntesten Journalisten Israels begleitete er Wahlkampagnen und durfte Fragen im Oval Office des US-Präsidenten stellen. Als Reporter berichtete er aus dem Westjordanland und für den israelischen Armeerundfunk über den zweiten Libanonkrieg. Für sein Buch „Revolte“ reiste Nadav Eyal zehn Jahre um die Welt, um die Ursachen politischer Verwerfungen zu verstehen. Sein Buch über Nationalismus, Migration und die Folgen des Klimawandels ist ein Reisebericht von den Schauplätzen der Revolte. Sein Fazit: Wir erleben „einen weltweiten Aufstand gegen die Globalisierung.“
Nadav Eyal ist seit gut 20 Jahren weltweit als Journalist tätig, und was er beobachtet, findet der israelische Autor aus Tel Aviv ziemlich besorgniserregend: Die Weltordnung zerfällt seiner Meinung nach. „Trump ist erst der Anfang“, schreibt der Autor. Populistische Hetze verbreitet sich, nicht zuletzt, weil die Menschen nichts mehr fürchten als den sozialen Abstieg. Nadav Eyal lässt Brennpunkte, Schauplätze und Ereignisse, die er im Lauf eines Jahrzehnts besucht hat, Revue passieren. Er versucht zu ergründen, weshalb die Welt aus den Fugen zu sein scheint, weshalb Populisten wie Trump und Johnson die Macht erobern, weshalb eine Partei wie die AfD so viel Erfolg hat.
Der Journalist beobachtete, wie dezentrale, führerlose Aufstände gegen die Idee des Fortschritts entstehen und ihn massiv bedrohen. Der Beschluss der Briten, die Europäische Union zu verlassen, ist für Nadav Eyal ebenso Revolte, wie der Aufstieg der Rechtsradikalen in Europa. „Die Revolte ist weltweit, ungeordnet und fließend, sie dreht sich mehr um die Ablehnung bestehender Machtstrukturen als um den durchdachten Aufbau von Alternativen“, schreibt der Journalist.
„Ich bin sehr sicher, dass wir es mit einer weltweiten Revolte zu tun haben, denn ich sehe das politische Phänomen dort, wo es den Brexit gibt, den Aufstieg des Nationalismus in Europa, den Aufstieg von Donald Trump“, sagt Nadav Eyal bei seinem Besuch in Berlin im Gespräch mit unserer Autorin. „Ich nenne es Revolte, weil es kein besseres Wort gibt, um zu beschreiben, wie Menschen etwas ablehnen. Im Moment lehnen sie sich gegen die Institutionen auf, denen sie einmal vertraut haben.“ Bei seinen Reportagen hat er überall auf der Welt erlebt, dass zwischen den Menschen das Vertrauen zurückgegangen ist. „Die Menschen haben ihre Unschuld verloren, sie wurden in ihrer Hoffnung auf eine liberale Ordnung enttäuscht.“
Der renommierte Journalist sieht die Revolte gegen die Globalisierung nahezu überall: In autoritären Ländern oder in „nicht lupenreinen Demokratien“, wie er es ausdrückt, im Irak, im Libanon und bei sozialen Unruhen in seiner Heimat Israel. Am Ende rebellieren diese Aufständischen für den Autor immer gegen die gegenwärtige Weltordnung.
Nadav Eyal beschreibt die Revoltierenden nicht als Angreifer auf die Weltordnung, sondern spricht mit sehr viel Empathie über sie. Diese Rebellen sind für den Autor nicht unbedingt in der Mehrheit, „aber sie können Wahlen entscheiden, wie zuletzt bei Donald Trump“. Entscheidend ist für den israelischen Journalisten, dass sie sagen: Die gegenwärtigen Machtstrukturen repräsentieren uns nicht.
Die Rebellen und ihr wachsendes gesellschaftliches Unbehagen sind für den Autor breit gefächert. Revolte ist für Nadav Eyal genauso der anschwellende Fundamentalismus wie die wachsende Feindseligkeit gegenüber Großkapitalisten. Die Revolte betrifft aber auch den Hass in den sozialen Netzwerken und den Statusverlust der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmedien. „Revolutionen haben in der Regel eine vereinende Idee, ein Art Vision, die vor oder nach der Revolution zum Vorschein kommt“, sagt Nadav Eyal. „Aber hier gibt es keine solche verbindende Idee.“ Für den Autor rebellieren die Menschen bei der Revolte gegen die Machtstrukturen, es geht ihnen mehr darum, sie zu verändern oder zu zerstören, als neue aufzubauen.“
Für den Autor gehört überwiegend die Mittelschicht zu den Unzufriedenen. Sie sieht ihre Sicherheit, ihre Identität und ihr Einkommen gefährdet. Sogar Donald Trump repräsentiert für den Journalisten eine Gruppe der Aufständischen: Wie bei einer Revolution ist in den Vereinigten Staaten die Tür für radikale Kräfte offen und, sagt Nadav Eyal, der US-Präsident zerstört Strukturen, ohne Alternativen anzubieten.
Als Journalist begegnete Nadav Eyal amerikanischen Arbeitern vor der ersten Trump-Wahl und griechischen Arbeitslosen nach der Wirtschaftskrise vor zehn Jahren. Er sprach mit chinesischen Unternehmern und mit deutschen Neonazis in Thüringen. Der Journalist war in Sri Lanka, wo Bauern mit Elefanten, denen nach und nach der Lebensraum genommen wird, um ihre Felder kämpfen. Und Nadav Eyal, der Jura an der Hebrew University studiert hat, beschreibt genauso seine Eindrücke, als er während der Finanzkrise Stipendiat an der London School of Economics war.
Besonders beeindruckend erklärt der dreifache Familienvater die sich wandelnde Migration am Beispiel seines jüdischen Großvaters, der es schaffte, rechtzeitig vor dem Holocaust nach Israel zu fliehen und zweier syrischer Jugendlicher. Am meisten beeindruckt hat Nadav Eyal, wie zuversichtlich die beiden Flüchtlinge im Teenageralter waren. Trotz des schrecklichen Kriegs in Syrien, bei dem Hundertausende ihr Leben verloren, wirkten sie glücklich, erinnert sich der Autor. Getroffen hat er sie an der Küste von der griechischen Insel Kos, wo er ein Stück mit ihnen gegangen ist. „Sie wirkten wie von ihren Ketten befreit, wie Menschen, die plötzlich wieder normal gehen konnten“, erinnert sich Nadav Eyal. „Ich war so von ihrem Optimismus gefangen, dass ich gleichzeitig traurig wurde, weil ich dachte: Vielleicht werden ihre Träume nicht wahr.“
Der Journalist versucht über die sozialen Medien mit allen Menschen, über die er schreibt, in Kontakt zu bleiben. So traf er später in Deutschland die beiden jugendlichen Flüchtlinge in der Nähe von Frankfurt wieder und stellte fest: „Sie waren glücklich und sehr dankbar, dass Deutschland sie aufgenommen hat. Sie studieren, sie sprechen Deutsch und schauen sehr optimistisch in ihre Zukunft.“ Diese Geschichte hat für Nadav Eyal ein positives Ende genommen.
Der Autor beschreibt in seinem lesenswerten Buch den Ablauf der Revolte in drei Akten. Der erste Akt beginnt für ihn nach dem Zweiten Weltkrieg. Fast wehmütig blickt er auf das „Zeitalter der Verantwortung“, wie er es nennt. Für Nadav Eyal haben Staatsführer wie Adenauer, Mitterand oder Ben-Gurion Schritt für Schritt für Stabilität, Frieden und Wohlstand gesorgt und alles darangesetzt, einen dritten Weltkrieg zu verhindern. Um die Revolte von heute zu verstehen, muss man seiner Meinung zunächst auf das Imperium schauen, das die heutige Weltordnung geschaffen hat, nämlich die USA.
Unter dem Deckmantel der Revolte gegen die Globalisierung sind populistisch-rassistische Politiker, wissenschaftsfeindliche Scharlatane und Fundamentalisten auf dem Vormarsch: Aber die Ära der Revolte ist für den Autor viel zu wichtig und zu schicksalhaft, als dass man sie Trump und seinem Twitter-Wahn überlassen dürfte.
Und was sagt der Journalist mit den jüdischen Wurzeln zu Trumps Nahost-Plan? Seiner Meinung nach begeht Trump den üblichen Fehler in Bezug auf die Identität von Menschen. „Er glaubt, es wäre nur wichtig, einen Job und soziale Fürsorge zu haben. Dann werden die Menschen automatisch Demokraten und wollen Frieden.“ Für Nadav Eyal ist es seltsam, dass ausgerechnet Trump diesen Fehler macht. „Er hat in seinem Friedensplan die Palästinenser vergessen, die auch diese Wünsche nach Ehre und Würde haben. Sie wollen in einem zusammenhängenden Staat leben, der nicht nur unabhängig ist, sondern sich auch unabhängig anfühlt.“ Deshalb ist für den Autor Trumps Plan tot.
Der Journalist hält ausgerechnet Deutschland für „das wichtigste und stabilste Bollwerk der Demokratie“. Wenn Deutschland es nicht schafft, eine Million Flüchtlinge zu integrieren, wer sonst in Europa würde es wagen, fragt der Autor. Für Nadav Eyal ist es eine Ironie der Geschichte und zugleich eine Hoffnung, dass ausgerechnet die Nation, die für das schlimmste Verbrechen der Neuzeit, die Shoah, verantwortlich ist, heute gemeinsam mit Frankreich die wichtigste Stütze der Demokratie ist.
„Die Welt sieht nach Berlin, das sage ich als Israeli und als Jude“, sagt Nadav Eyal. „Ich habe keine Angst, dass Deutschland auf der Weltbühne Verantwortung übernimmt.“ Der Autor weiß um die Verbrechen, die im Dritten Reich begangen wurden. „Ich bin mir dieser deutschen Geschichte voll bewusst“, sagt er, „aber die Welt braucht gerade jetzt ein liberales Engagement“. Wichtig ist Nadav Eyal, dass sich in Deutschland die etablierten Parteien zu ihrer demokratischen Ordnung und ihren Visionen für ein starkes Europa bekennen. „Deshalb richte ich als Optimist, als Liberaler und als Humanist den Blick nach Berlin und sage den Deutschen: Ihr tragt die Verantwortung, nicht wegen eurer Geschichte, sondern wegen der Zukunft.“
Bereits vor zwei Jahren erschien „Revolte“ auf Hebräisch und wurde ein Bestseller. Nadav Eyals dramatische Gesamtschau der gegenwärtigen Krise der Globalisierung macht nachdenklich: „Wir werden um unsere freiheitlichen Werte kämpfen müssen“, schreibt der Autor. „Für Aufklärung und Rationalität, für ein gemeinsames Zusammenleben über die Grenzen von Nation und Religion hinweg.“ Wichtig sind verbindliche Vereinbarungen zur Lösung der globalen Erwärmung. Er plädiert für Einfluss der ärmsten Weltregionen im UN-Sicherheitsrat. Leidenschaftlich appelliert Nadav Eyal an Solidarität anstelle von Turbo-Kapitalismus – und gerade das macht das Buch so lesenswert.
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