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DVA München 2019, 770 Seiten, 38,- Euro, ISBN: 978-3-421-04734-2
Der erste Band seiner Jahrhundertchronik über Europa reichte von 1914 bis 1949. Darin ging der britische Historiker Sir Ian Kershaw (75) einer so einfachen wie einleuchtenden Frage nach: Wie war es möglich, dass sich Europa in den 1940er Jahren beinahe selbst zerstörte? Für ihn kennzeichnet die entstehende Konfrontation von Demokratie und Diktaturen diese Epoche. Und um diese Konstellation herum, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Deutschland und die Auswirkungen der beiden Weltkriege, erzählt der Historiker die Geschichte mit einer eindeutigen Richtung: abwärts Richtung „Höllensturz“, wie das erste Buch heißt. Im zweiten Band nimmt Ian Kershaw die Zeit von 1950 bis in die Gegenwart in den Blick. „Achterbahn. Europa 1950 bis heute“ beschreibt er die europäische Geschichte als eine Zeit voller Widersprüche und Ungereimtheiten.
Zweieinhalb Jahre arbeitete Sir Ian Kershaw an Achterbahn, dem abschließenden Teil seiner Jahrhundertchronik: Der britische Historiker, dessen zweibändige Hitler-Biographie als Meisterwerk über den Nationalsozialismus gilt, analysiert diesmal die europäische Nachkriegsgeschichte von 1949 bis weit in den Herbst 2017. Persönliche Erinnerungen können den Blick verzerren, schreibt der 75 Jahre alte Historiker im Vorwort. Eine Epoche selbst zu durchleben, macht es keineswegs leichter, über diese Periode zu schreiben. Im Grunde bedarf es eines zeitlichen Abstands, um die Bedeutung großer Ereignisse zu verarbeiten. Neben exzellenten eigenen Kenntnissen stützt sich der Autor auf herausragende Werke von Journalisten, Wissenschaftlern und Fachkollegen, wie er es nennt. Und auf das, was Akteure der jüngsten Geschichte wie Ex-Premierminister Tony Blair über die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts niedergeschrieben haben.
In „Höllensturz“, dem ersten Teil der Chronik, folgt der Autor geradlinig den beiden aufeinander-folgenden Weltkriegen. „Höllensturz war auch nur ein Bild, es gab ja tatsächlich gar keinen Höllensturz“, sagt Ian Kershaw in hervorragendem Deutsch. Unsere Autorin hat den international hochgeschätzten Gelehrten bei seinem Besuch der lit. Cologne in Köln getroffen. Ian Kershaw wurde für seine Verdienst um die historische Forschung von Queen Elisabeth II. zum Ritter geschlagen (2002) und darf sich seitdem Sir nennen. Er erhielt das Bundesverdienstkreuz (1994) und war in den 1980er Jahren Gastprofessor an der Ruhr-Universität Bochum.
In Achterbahn setzt sich Ian Kershaw vor allem mit europäischen Dramen und willkürlichen Wechselfällen auseinander. Die Nervenkitzel-Metapher „Achterbahn“, gemeint sind Fortschritte und Rückschläge in rasantem Tempo, hat für Ian Kershaw auch Grenzen. „In 70 Jahren Nachkriegsgeschichte bestand immer die Tendenz, nur das Positive in den Vordergrund zu stellen, als ob es ständig geradlinig bergauf ging. Das ist aber eine rein westeuropäische Perspektive.“
„70 Jahre Frieden? Sagen sie das mal einem Ex-Jugoslawen oder Ukrainer“, zitiert Ian Kershaw den französieren Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Schaut man nach Osteuropa, den ehemaligen Ostblock, Zentraleuropa, Südosteuropa, „das waren alles andere als geradlinige Entwicklungen“. Mit dem Achterbahn-Bild bindet der englische Historiker auch das immer schneller werdende Tempo ein, inklusive der damit verbundenen Ängste und die Aufs und Abs.
Für Ian Kershaw begann die unberechenbare Achterbahnfahrt in den Brexit vor zehn Jahren mit dem globalen Finanzcrash. Der emeritierte Professor hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er für den Verbleib in der EU ist und bedauert den Brexit zutiefst. Als politisches Theater seien die Verhandlungen für ihn kaum zu überbieten, „nur es ist mein Land, was sie da ruinieren“, empört er sich hörbar. Den Brexit-Initiator Boris Johnson bezeichnet der ansonsten sehr höfliche Historiker schlichtweg als Schnösel. Alte Ressentiments, Zweifel und Ängste sowie die nach wie vor existierende Vorstellung eines längst vergangenen British Empire sind für den Autor eine hochexplosive Verbindung eingegangen. Der frühere Professor für Modern History an der University of Sheffield findet es interessant, dass ausgerechnet jetzt drei Kinofilme über Churchill erschienen sind, die das heroische Image vom Zweiten Weltkrieg in Großbritannien zeigen.
Im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern, war das Thema Europa in Großbritannien bis vor kurzem „kein Thema und völlig nebensächlich“. Jetzt sieht Ian Kershaw eine totale gesellschaftliche Spaltung. Fatalerweise machen die Menschen ausgerechnet die EU zum Sündenbock für eine verfehlte Politik, die von den Eliten in London gemacht wurde. Für den Autor führt kein Weg daran vorbei: „Die EU sollte wirklich ganz neue Bestrebungen machen sich zu reformieren, sich zu verändern, anstatt sich weiterhin durchzuwurschteln.“ Die EU werde aktuell mit einer ganzen Menge Krisenherde konfrontiert, neben dem Brexit, Ungarn, Polen oder Italien, „ganz abgesehen von den äußeren Gefahren, von Wladimir Putin oder von Donald Trump, der versucht auf seine Weise die EU und auch die NATO zu destabilisieren“. Vieles sei jetzt viel flüssiger geworden, was einst als ganz solide galt, wie der Autor es ausdrückt. Die Eurozone ist seiner Meinung nach immer noch „ein relativ fragiles Konstrukt. Das könnte schief gehen“.
Bei der Analyse von 70 Jahren Europa hat den renommierten Gelehrten am meisten überrascht, wie wichtig die Persönlichkeit von Einzelnen ist, wenn es um große historische Veränderungen geht. „Solche Menschen befinden sich in einer Situation, die sie letztendlich nicht kontrollieren können.“ So wollte der damals eingefleischte Kommunist Michail Gorbatschow 1985 eigentlich die Sowjetunion reformieren, hat sie jedoch letztlich „zerrüttet“. Die persönliche Wichtigkeit und die Ahnungslosigkeit von Gorbatschow lassen den britischen Autor staunen, vor allem, „dass er selbst in der Lage war, die Reform der Sowjetunion durchzusetzen und „somit verantwortlich war für den Zerfall der Sowjetunion und für die große Wende in Europa“, stellt Ian Kershaw nachdrücklich fest.
Wladimir Putin habe dagegen seiner Meinung nach „viel Unfug gemacht“, in der Ukraine, auf der Krim, so Ian Kershaw. „Man kann von seiner Sicht aus verstehen, wie er dazu kam.“ Putin hat versucht, Russland wieder zu einer Supermacht aufzubauen. „Aber er zeigt mit seinen Handlungen im mittleren Osten auch die Schwäche des Westens, die Schwäche der EU.“
Ian Kershaws Blick auf Deutschland überraschend positiv. Das Land ist für ihn längst „ein unverzichtbarer Pfeiler der liberalen Demokratie“, dass zunächst eher wiederstrebend die Rolle der Führungsmacht angenommen habe. Der Historiker bedauert lediglich, dass Deutschland Emmanuel Macron nicht bei seinen neuen EU-Initiativen unterstützt. Wenn die Achse Frankreich – Deutschland nicht funktioniert, funktioniert für den Autor auf Dauer nur wenig in der reformbedürftigen EU. „Wir haben gewaltige Fortschritte gemacht, gewaltige Leistungen hinter uns und wir sollten diese Leistungen nicht über Bord werfen. Stattdessen alles dafür tun, um die liberalen Werte, die uns so wichtig gewesen sind in den letzten sieben Jahrzehnten, aufrechtzuhalten. Und dem Rechtspopulismus nicht zu gestatten, die Oberhand zu gewinnen.“
Der Historiker bändigt die überbordende Fülle an historischen Ereignissen virtuos, souverän und gut lesbar. Er habe versucht, so objektiv wie möglich zu schreiben, kein Land zu bevorzugen, stattdessen so getan, als schreibe er über das Mittelalter. Für Ian Kershaw ist die Eurozone immer noch ein relativ fragiles Konstrukt, dem eine neue Wirtschaftskrise gefährlich werden könnte. Seit den 1970er Jahren, nach der Ölkrise, hat eine Epoche begonnen, von der selbst Historiker wie er nicht wirklich wissen, wohin die wilde Fahrt geht, sagt Ian Kershaw freundlich lächelnd. Turbokapitalismus, Terrorismus, Klimawandel, das sind keine Bedrohungen, die einzelne Staaten alleine lösen können. Die „fridays für future“-Demonstrationen der jungen Leute findet der Historiker zwar nett, aber sie werden seiner Meinung – ähnlich wie die Anti-Atomkraftproteste der 70er Jahre – keine Veränderungen bewirken.
Auf knapp 800 Seiten breitet Ian Kershaw in „Achterbahn“ chronologisch und penibel aufbereitet ein gewaltiges Kaleidoskop aus: Von der atomaren Bedrohung der beiden Supermächte im Kalten Krieg, vom Zerfall der Nachkriegswelt in zwei schwer bewaffnete Blöcke bis hin zum Aufblühen des islamistischen Terrorismus. Von der Furcht der Menschen vor einem Identitätsverlust und ihre Neigung „ins Nationale zu gehen“ bis hin zum bedrohlichen Klimawandel. Am Ende seiner wirklich lesenswerten Analysen, mit scharfen und klug begründeten Einordnungen, vermutet der Historiker: Die Aussichten für gesellschaftliche Harmonie und Zusammenhalt sind nicht sonderlich rosig. Das Weltgeschehen lasse sich leider nicht nur aus historischem Wissen vorhersagen, da auch der Zufall und das Geschick der Mächtigen dabei eine Rolle spiele.
Weitere Leseempfehlungen:
Zeitgenossen in der Achterbahn, in: Badische Zeitung, 26.03.2019
„Die EU ist unbedingt reformbedürftig“, in: Deutschlandfunk, 24.03.2019
Wie politische Fehlentscheidungen Krisen auslösten, in: Süddeutsche Zeitung, 23.03.2019
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