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Wäre es nicht fair, die Höhe des eigenen Krankenkassenbeitrags am persönlichen Lebensstil zu orientieren? Warum für das Erkrankungsrisiko des rauchenden Nachbarn mitbezahlen, während man selbst im Fitnessstudio schwitzt? Nur noch für das eigene Verhalten einstehen: Telematiktarife in der Kfz-Haftpflicht kalkulieren bereits nach diesem Prinzip. Ansätze dafür finden sich auch in den Bonusprogrammen im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ein heißes Eisen, macht eine Studie der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und der Universität zu Köln deutlich: Die Beitragssolidarität könnte auf der Strecke bleiben.
Die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte Studie nimmt die Möglichkeiten digitaler Datenerhebung im Fitness- und Gesundheitsbereich unter die Lupe. Smartphone-App, Smartwatch oder der Sensor am Brustgurt zeichnen die Herzfrequenz auf, protokollieren Blutzuckerwerte und erinnern an die Tabletteneinnahme. Die Hälfte der Bevölkerung hat bereits Erfahrung mit den kleinen smarten Helfern gemacht, Tendenz steigend. Tatsächlich stehen sie für die Unterstützung eines gesunden Lebensstils, vermessen jedoch auch das Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Solidarprinzip neu. Definieren Fitness-App & Co. eine neue Einstellung zur Beitragsgerechtigkeit und beeinflussen somit die Akzeptanz der solidarisch finanzierten Krankenversicherung? Der Untersuchung liegt eine repräsentative Umfrage unter 1.314 Personen zugrunde.
Die Studie untersucht drei Nutzungsbereiche mobiler Digitalgeräte:
Fitness- und gesundheitsbezogene Anwendungen sind weitaus zahlreicher als krankheitsbezogene Features. So nutzen 47 Prozent der Befragten elektronische Hilfsmittel allein zur Aufzeichnung von Bewegungsverhalten und Körperdaten gegenüber 5 bis 7 Prozent mit krankheitsbezogener Nutzung.
Ein zentrales Studienergebnis belegt die nach wie vor hohe Zustimmungsrate in der Bevölkerung zur solidarisch finanzierten Krankenversicherung von 74 Prozent – aber merklich weniger im Vergleich zur Erhebung im Jahr 2004 (87 %). Die Autoren führen diesen Rückgang auf die jüngere Altersgruppe der weniger solidarisch eingestellten Nutzer zwischen 16 und 44 Jahren zurück. Sie ist gesünder und mit Fitness- und Gesundheits-Apps vertrauter als ältere Menschen.
Nutzer von fitness- und gesundheitsbezogenen Apps lehnen das Solidarprinzip eher ab als Nutzer krankheitsbezogener Anwendungen. Ein Ergebnis, das nicht überrascht, schließlich nehmen Befragte der letzteren Gruppe mit hoher Wahrscheinlichkeit Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch. „Es zeigt sich deutlich, dass die Nutzungsart in Hinblick auf Entsolidarisierungseffekte von entscheidender Bedeutung ist.“
Die Studie nimmt acht „Entsolidarisierungsoptionen“ und deren Beurteilung durch die Bevölkerung unter die Lupe. So stimmen 76 Prozent dafür, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen mit einer Beitragsminderung zu belohnen. 61 Prozent plädieren bei riskanten Sportarten wie Fallschirmspringen und Klettern für eine Beitragsanhebung. Die Gruppe aktiver Nutzer von Fitness- und Gesundheits-Apps zeigt bei solchen verhaltensbedingten Optionen „eine überdurchschnittliche Zustimmung“ zu individuellen Tarifen. Das gilt vor allem für Prävention, Sport und gesunde Ernährung. Auch die Weitergabe gesundheitsbezogener Daten an die Krankenversicherung wollen diese Nutzer belohnt sehen (49 %). Mit dem Prinzip „Daten für Geld“ haben sie offensichtlich kein Problem.
Beim erhöhten Gesundheitsrisiko aufgrund beruflicher Belastung oder genetischer Bestimmung hingegen wird eine Beitragserhöhung überwiegend abgelehnt (79 bzw. 94 %). „Die Befragungsergebnisse zeigen eindeutig, dass die Befragten sehr deutlich unterscheiden können, ob ein Faktor im Handlungsspielraum der Versicherten liegt oder nicht“, bringt es die Studie auf den Punkt.
Belohnung wichtiger als Strafe
Bemerkenswert auch, dass App-Nutzern der positive Anreiz (Beitragssenkung) wichtiger ist als die Bestrafung (Beitragserhöhung) ungesunder Lebensweisen wie Rauchen, Trinken und schlechte Ernährung. Einzig Frauen stimmen der Bestrafung verhaltensbedingter Gesundheitsrisiken vermehrt zu (38 %) – warum, bleibt unbeantwortet.
Die Studie deckt zwar keine generelle Abkehr vom Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung auf, wohl aber eine Erosion der Solidarität bei Nutzern fitness- und gesundheitsbezogener Mobilgeräte. Ausgehend von der jüngeren, digitalaffinen Generation konstatieren die Autoren ein Schwinden der „Lebensstil-Solidarität“: Gemeint ist die „Solidarität zwischen Menschen, die eine gesundheitsbewusste Lebensweise wählen, und solchen, die sich für eine potenziell gesundheitsgefährdende Lebensweise entscheiden, wie zwischen Rauchenden und Nichtrauchenden, Übergewichtigen und Normalgewichtigen, Fleischessenden und Vegetarier_innen.“ Angesichts der technischen Fortentwicklung zur präzisen Bestimmung von Krankheitsrisiken halten die Autoren einen gesellschaftlichen Diskurs über Rolle und Umfang von Solidarität in der zunehmend digitalisierten Gesellschaft für unverzichtbar.
Sarah-Lena Böning / Remi Maier-Rigaud / Simon Micken,
Gefährdet die Nutzung von Gesundheits-Apps und Wearables die Solidarische Krankenversicherung? Eine bevölkerungsrepräsentative Bestandaufnahme der Solidaritätseinstellungen. Hg. Friederich-Ebert-Stiftung, WISO-Diskurs, 13/2019, Bonn, 60 Seiten, Download
Grundlegend zu den Trends und Herausforderungen verhaltensabhängiger Bewertungen und Tarife siehe das Gutachten „Verbrauchergerechtes Scoring“ des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen (SVRV, 2018)
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