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Nie zuvor standen die europäischen Institutionen und der Fortgang der Integration so in der Kritik wie in den vergangenen Jahren. Im Gefolge von Brexit und US-Präsidentenwahl stellten nationalistisch kanalisierte Globalisierungsängste der Bürger auch auf dem europäischen Kontinent das Einigungswerk in Frage. Zwar blieb der Durchmarsch der Populisten in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland – trotz beachtlicher AfD-Erfolge – aus. Tiefsitzende Ängste, denen sie ihren Aufstieg verdanken, bestehen aber fort. Themen wie Migration, Terrorismus, soziale Sicherheit und Klimawandel treiben die Bürger Europas um und bestimmen ihre Haltung zur Globalisierung und zur Europäischen Union. Das wirft Fragen auf: Wie und mit welchem Ziel die Union von 28 bzw. 27 Staaten reformiert werden kann und ob ihr die Lösung allgegenwärtiger politischer Herausforderungen zugetraut wird.
Diesen Fragen geht das Umfrageinstrument eupinions der Bertelsmann Stiftung nach. Befragt wurden mehr als 10.000 Bürger der EU-Staaten im Juli 2017. Hauptaugenmerk der Studie liegt auf der EU 27 (ohne GB), da es um die öffentliche Meinung zur Weiterentwicklung der Integration geht. Zusätzlich nahmen sich die Forscher die fünf bevölkerungsreichsten Mitgliedsstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und Spanien vertiefend vor. Daraus ergibt sich ein vielförmiges Stimmungsbild. Die folgende Darstellung widmet sich zentralen Schlussfolgerungen der Autorinnen an die Adresse der politischen Entscheidungsträger.
Die verbreitete Antithese von Globalisierung und europäischer Integration einerseits, Nationalismus und Protektionismus andererseits wird von den Ergebnissen der vorliegenden Erhebung um eine dritte Position ergänzt: Sie ist geprägt von der Angst vor der Globalisierung und sieht die europäische Union als Teil der Lösung. Vertreter dieser Position seien eher bei linken Parteien beheimatet und befürworteten mehr europäische Kooperation, vor allem mit Blick auf die wirtschaftlich angeschlagenen Mitgliedsstaaten und den Zuzug von Migranten. Diese Gruppe verfüge gegenüber der integrationskritischen populistischen Rechten über eine Mehrheit in der Bevölkerung. „Diese Erkenntnisse sind ein deutlicher Auftrag an alle Regierungsvertreter und Vertreter der EU-Organe zur Neugestaltung der EU“, so die Empfehlung der Studie.
Die Haltung der Befragten zur Globalisierung ist auf den ersten Blick widersprüchlich: Soweit es um preisgünstige Waren und Dienstleistungen geht, geben sie an, mehr gute als schlechte Erfahrungen damit gemacht zu haben und äußern zugleich Angst vor den Folgen der Globalisierung. „Diese Ängste zu adressieren und Lösungen anzubieten ist die entscheidende Herausforderung der kommenden Jahrzehnte für die etablierten Parteien sowohl im linken als auch im rechten Spektrum.“
Der falschen Verheißung des „take back control“ müsse ein glaubwürdiges „give back confidence“ entgegengesetzt werden. Eine große Aufgabe, die langen Atem erfordert, so beschreibt es die Studie. Schließlich geht es nicht allein um ökonomisch fundierte Ängste, um Abstiegssorgen. Zur Diskussion stehen vielmehr Sorgen um die innere Sicherheit, um Terrorismus, Migration und Bürgerrechte, kurzum eine Vertrauenskrise des politischen Systems insgesamt. Gefragt ist „ein kluger Mix aus politischen Lösungen“, fordern die Autorinnen. Was das genau meint, sagen sie nicht. Vielleicht ein pragmatisches „Fahren auf Sicht“, angetrieben von der Vision einer schützenden Politik, die den Bürgern Ängste nimmt und neues Selbstbewusstsein gibt.
„Linksgerichteten Politikern und Vordenkern sollte angesichts unserer Ergebnisse zu denken geben, dass Fragen der gerechten Verteilung wirtschaftlichen Wohlstands derzeit weit unten auf der Prioritätenliste der Europäer liegen“, mahnen die Autorinnen. Angst vor der Globalisierung hat zwar auch eine ökonomische Dimension, Anliegen wie Terrorismusbekämpfung und Steuerung der Zuwanderung rangieren aber europaweit deutlich vor Forderungen nach Wachstum und sozialer Gerechtigkeit.
Rechte Politiker hingegen sollten nicht meinen, dass das Bedürfnis nach mehr Sicherheit automatisch mit dem Wunsch nach Abschottung korrespondiere, geben die Autorinnen zu Bedenken. Immerhin 64 Prozent der Befürworter der Globalisierung und 45 Prozent derjenigen, die Angst vor ihr haben, sehen die EU als Schutzschirm. Dagegen sei die Wahrnehmung des Nationalstaates als sicherer Hafen keinesfalls Allgemeingut.
Es steht viel auf dem Spiel. Ob die anhaltende Krise der EU in den Zerfall führt oder einer neu modellierten Zukunft des Kontinents zum Durchbruch verhilft, hängt auch davon ab, ob es den Entscheidungsträgern gelingt, mehr Vertrauen in Wohlstand und Frieden sowie in Schutz und Sicherheit durch die europäische Zusammenarbeit zu begründen. Darüber dürfen aber auch weitere, in der Studie nicht erwähnte Kritikpunkte an EU und Integration nicht vergessen werden, etwa Demokratiedefizit, Lobbyismus und Zentralisierung. Diese Schwachstellen bergen erhebliches Konfliktpotenzial, zumal in ihrer populistischen Zuspitzung, und müssen daher von den Politikern ebenfalls sehr ernst genommen werden.
Catherine E. de Vries / Isabell Hoffmann, Globalisierung und die europäische Integration: Bedrohung oder Chance? Wahrnehmungen, Kenntnisse und politische Präferenzen der EU-Bürger, Reihe eupinions, #2018/1, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 32 Seiten
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Diese Studie baut auf der Ende 2016 erschienen Analyse „Globalisierungsangst oder Wertekonflikt? Wer in Europa populistische Parteien wählt und warum“ auf. Darin ist die Globalisierungsangst wichtigstes Unterscheidungsmerkmal der Anhänger populistischer und etablierter Parteien.
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