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Beim Thema Digitalisierung tut sich das deutsche Gesundheitswesen schwer. Im internationalen Vergleich von 17 Ländern liegt die Bundesrepublik weit abgeschlagen auf dem vorletzten Platz, besagt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Wesentliche Ursache für das schlechte Ranking: Die Politik habe die Verantwortung für die Digitalisierung an Ärzteschaft und Krankenkassen delegiert – und die blockierten sich gegenseitig. Die Studienautoren fordern daher mehr politische Führung und eine unabhängige koordinierende Institution auf nationaler Ebene. Immerhin will die Bundesregierung jetzt in die Offensive gehen: Das Gesundheitsministerium bringt derzeit ein Gesetz zur digitalen Modernisierung des Gesundheitssystems auf den Weg, wie aus der neu geschaffenen Abteilung für Digitalisierung und Innovation zu erfahren war. Und ab 2020 werden in Berlin ausgewählte digitale Anwendungen, beispielsweise Gesundheits-Apps, in der Praxis getestet, bevor sie dann bundesweit zur Anwendung kommen sollen.
Spitzenreiter der Bertelsmann-Ländervergleichsstudie sind Estland, Kanada und Dänemark. In Estland gehören beispielsweise E-Rezept, elektronische Patientenakten und ein nationales Gesundheitsportal längst zum Alltag. Dort und in Dänemark können alle Bürger die Ergebnisse ihrer Untersuchungen, Medikationspläne oder Impfdaten online einsehen. Sie können Zugriffsmöglichkeiten für Ärzte und andere Gesundheitsberufe selbst verwalten. In Kanada gibt es ein zentrales Koordinationsorgan, das Agenden festlegt, die Investitionen für Digital Health verteilt und eng mit den Provinzen zusammenarbeitet. Ferndiagnosen und Fernbehandlungen per Video sind dort Teil der Gesundheitsversorgung.
Und in Deutschland? Hier wurde zwar schon 2003 die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte beschlossen, die Umsetzung dauerte jedoch länger als ein Jahrzehnt. Es gibt erfolgreiche digitale Pilotprojekte wie die Notfallversorgung von Schlaganfallpatienten oder das Telemonitoring von Menschen mit Herzerkrankungen, allerdings nur regional. Gesundheits-Apps wie die Tinnitus-App Tinnitracks und andere digitale Lösungen wie Selfapy und Novego (Hilfe bei Depressionen, Burnout und anderen psychischen Leiden) oder Mimi (Hörtest und gehörschonender Musikfilter) werden mittlerweile unter bestimmten Bedingungen angeboten und die Kosten erstattet – aber nicht von allen Krankenkassen.
„Die Krankenversicherungen müssen angesichts fehlender gesetzlicher Regulierung eigene Evaluierungswege entwickeln. Diese Trägheit macht Start-ups das Leben schwer: Denn wer nicht in die Kostenerstattungsmodelle der Versicherungen passt, sitzt auf dem Trockenen“, schreibt der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) in einer Studie (2017). So ließen sich zum Beispiel Gesundheits-Apps oft nicht klar einer der typischen Leistungsarten wie ambulante oder stationäre Behandlung, Arzneimittel oder Hilfsmittel zuordnen.
Auch die Ärzteschaft bekommt ihr Fett weg: Von „Silo-Mentalität“ spricht der BVDW, und der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen kommt in einer Studie (2016) zu dem Schluss, dass Digitalisierung allein nicht die Qualität der Beratung oder von Sprechstunden per Video verbessere. „Qualität erfordert bessere Kompetenz von Ärzten: Studien zeigen, dass 70 bis 80 Prozent der Ärzte Gesundheitsstatistiken nicht verstehen.“
Erschwerend kommt hinzu, dass keiner der etablierten Akteure des hiesigen Gesundheitssystems nennenswerte B2C-Erfahrung (Beziehungen zwischen Unternehmen und Konsumenten) besitze, so der BVDW. Investoren haben dagegen das Potenzial des Gesundheitsmarktes erkannt: So investierten Wagniskapitalgeber im vergangenen Jahr weltweit 10,3 Milliarden Euro in Unternehmen aus dem Bereich des digitalen Gesundheitswesens – vor allem in den USA (7,3 Mrd.) und China (2,3 Mrd.). Europa ist mit 0,7 Mrd. Euro Schlusslicht. Und für 2019 werde eine weitere große Investitionswelle erwartet, schreibt die Managementberatungsfirma Porsche Consulting in einer aktuellen Studie.
Das meiste Geld geht in das „Empowerment von Patienten“ – Plattformen und Vermittlungsportale, die den Markt für Kunden transparenter machen oder ihnen mehr Eigenständigkeit ermöglichen wie beispielsweise Doctolib (Terminbuchung). Im Fokus ist auch die personalisierte Gesundheit: Hier geht es zum Beispiel darum, mit Hilfe von DNS-Tests Prävention, Diagnose und Therapie zu individualisieren, zudem um Ferndiagnosen und -behandlungen mittels Telemedizin.
Der Blick über die Grenzen zeigt, wie Digitalisierung im Gesundheitswesen klappen kann: In Dänemark können sich Patienten über das Gesundheitsportal sundhed.dk über Krankheiten und deren Behandlung informieren und haben Zugriff auf ihre elektronische Patientenakte (ePA). Auch in Israel gehören ePAs und E-Rezepte zum Alltag. Frankreich hat kürzlich mit der landesweiten Einführung von ePAs begonnen. Die Niederlande haben mit AORTA eine nationale IT-Infrastruktur für den Austausch von Gesundheitsdaten. Und die Schweiz schaffte es trotz dezentraler kantonaler Struktur des Gesundheitswesens, Einigkeit bei der nationalen E-Health-Strategie zu schaffen.
Die Experten sind sich einig: Digitalisierung kann nur gelingen, wenn es eine klare politische Strategie und eine spezielle Institution auf nationaler Ebene („Nationales Kompetenzzentrum“) gibt. Letztere sollte politisch verankert und unabhängig von Akteursinteressen sein. Ganz konkret wird der BVMW: Er fordert digitale Informations- und Bildungsinitiativen für Ärzte und Ärztekammern zu konkreten Nutzungsszenarien und zu den Potenzialen und Risiken digitaler Technologien und Dienstleistungen, um bei der Ärzteschaft Expertise aufzubauen. Für digitale Pilotprojekte müssten Rahmenbedingen gesetzt werden, die eine Überführung in die Erstattungsfähigkeit regeln.
#SmartHealthSystems: Digitalisierungsstrategien im internationalen Vergleich
Teil I: Internationales Benchmarking und digital-Health-Index
Teil II: Erfolgskriterien und Nutzungsgrade digitaler Anwendungen – Vergleichende Länderstudie
Teil III: Analyse und Übertragbarkeit
Rainer Thiel / Lucas Deimel / Daniel Schmidtmann, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh November 2018, 401 Seiten, Download, Die fünf Spitzenreiter im Überblick
Managementberatung Porsche Consulting, „Patient im Fokus“, Dez. 2018
Bundesverband Digitale Entwicklung e.V., Digitale Gesundheit. Die fünf großen Blockaden auf dem Weg zur digitalen Gesundheit – und wie wir sie überwinden können, Juni 2017, Download
Sachverständigenrat für Verbraucherfragen, Digitale Welt und Gesundheit, Januar 2016, Download
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